In der Parascha Wajischlach kommt es zu der gefürchteten Begegnung zwischen Jaakow und Eisaw. Nach jahrzehntelanger Trennung treffen die Zwillingsbrüder, die alles andere als identisch sind, aufeinander. Jaakow, der vor 34 Jahren vor Eisaws Zorn floh, kehrt mit einer großen Familie und großem Reichtum zurück. Eisaw nähert sich rasch mit 400 wilden Gesellen, die bis an die Zähne bewaffnet sind. Wird es zum Krieg kommen, oder versöhnen sich die beiden? Jaakow bereitet sich auf alles vor und schickt seinem feindseligen Bruder eine Botschaft:

Im Lawan garti“, erklärt er – „Ich habe bei Laban gelebt.“ Nach Raschi bedeutet das, dass er über 20 Jahre bei einem notorischen Schwindler lebte, aber „dessen üble Art“ nicht übernommen hat, sondern ein rechtschaffener Jude mit G–tt gefälligem Leben geblieben ist. Darauf deutet auch die Gematria (Numerologie) des hebräischen Wortes garti (wohnte) hin, dessen Zahlwert 613 gleich der Zahl der Mizwot in der Tora ist.

Aber war das nicht ziemlich prahlerisch? Der Mann, der bald um Erlösung beten und behaupten wird, er sei demütig (kotonti) angesichts der Güte G–ttes, weist Eisaw stolz auf seine Frömmigkeit hin?

Der Chofez Chaim (Rabbi Israel Meir Kagan, 1838-1933) bietet eine andere Deutung an: Jaakow prahlte nicht, sondern klagte. „Ich lebte bei Laban, lernte aber nichts von seiner bösen Art.“ Laban war nämlich böse mit Begeisterung, mit Schwung und Elan. Seine sündhafte Lebensweise zeugte von Energie und Leidenschaft, und Jaakow bedauert, dass er bei seinen guten Taten nicht ebenso begeistert war wie Laban bei seinen schlechten.

Wenn die Guten ebenso viel Energie hätten wie die Bösen, würde die Zahl der Verbrechen drastisch zurückgehen. Wären die Polizisten und Richter der Welt ebenso engagiert wie die Drogenbarone und die Entführungsindustrie, ginge es uns allen besser. Leider sind die Kräfte des Bösen begeistert und hochmotiviert, während die Kräfte des Guten oft auf überarbeitete und unterbezahlte Beamte angewiesen sind.

Nikita Chruschtschow (berühmt dafür, dass er vor der UNO seinen Schuh aufs Rednerpult knallte) sprach in der antistalinistischen Phase einmal vor einem großen Publikum in Russland. Er geißelte Stalins Brutalität und unverzeihliche Verbrechen, als plötzlich eine Stimme aus der Menge rief: „Wenn Stalin so ein Verbrecher war, warum hast du damals nichts dagegen getan?“

„Wer war das?“, donnerte Chruschtschow. Im Saal herrschte absolute Stille. Niemand regte sich. Die Menschen waren vor Furcht erstarrt.

„Jetzt wisst ihr, warum ich nichts getan habe“, lautete Chruschtschows überzeugende Erklärung.

Diese interessante Deutung von Jaakows Klage erinnert uns daran, dass die Stimme der Moral mindestens so laut sein muss wie die Stimme des Bösen. Allzu oft ist die Stimme der Gerechtigkeit leise, während die Stimme der Korruption und Degeneration laut und bombastisch ist.

Wer kann die süße, leise Stimme des Guten verstärken?

Wir alle sollten uns bemühen, für das Gute und G-ttliche so leidenschaftlich und energisch einzutreten wie die andere Seite für das Böse und die Ungerechtigkeit. Dann wird die Welt ausgewogener, viel angenehmer und sehr viel sicherer.