Im Wochenabschnitt Wajischlach finden wir einen Satz, in dem Jaakov erzählt, dass er etliche Zeit bei Lavan verbracht hatte. Er verwendet dabei das hebräische Wort garti, das in biblischer Sprache nicht einfach »wohnte« heißt, sondern ein vorübergehendes Verweilen an einem Ort bezeichnet. Er fühlte sich dort also nicht sesshaft, sondern gedachte, nicht länger als unbedingt notwendig und nur um eines bestimmten Zweckes willen zu verweilen. (In seinem Fall war dies die Gründung seiner Familie und der Aufbau eines Lebensunterhalts.)
Aus den hebräischen Buchstaben des Wortes garti leiteten unsere Gelehrten aber auch eine weitere Bedeutung ab: Ordnet man die Buchstaben anders an, ergibt sich »Tarjag« – und das ist wiederum ein Kürzel für die 613 Gebote der Tora. Also finden wir hier, so der Midrasch, einen Hinweis darauf, dass Jaakov in seiner Zeit bei Lavan ungeachtet des fremden Umfeldes die Gebote G-ttes ohne Abstriche eingehalten hatte.
Chasidische Lehren weisen oft darauf hin, dass verschiedene Erklärungen für ein und dieselbe Textstelle inhaltlichen Zusammenhang aufweisen. So kann man auch hier fragen, was denn der gemeinsame Nenner von Jaakovs Fremd-Sein bei Lavan und dem Halten der Gebote sei:
Das wahre Interesse der jüdischen Seele ist nicht die materielle Welt, sondern die Verbindung zu G-tt. Diese Verbindung stellen wir durch das Ausüben der Gebote her. Dabei ist das Materielle sehr oft notwendig – man benötigt allerlei Dinge, nicht zuletzt Geld, um verschiedene Gebote umsetzen zu können. Doch ist diese Zuwendung zum Materiellen eine scheinbare. Sie ist nicht wirklich das Ziel, sondern ein Mittel, das nur zur Erreichung des eigentlichen Ziels angestrebt wird. So ging es auch Jaakov. Für ihn war das Leben bei Lavan, mit allem,was er sich dort erwarb, Mittel zum Zweck. Und gerade über diesen Weg gelangte er zum eigentlich Wesentlichen, nämlich dem uneingeschränkten Halten der Gebote.
Tatsächlich wurden auf diese Art auch die materiellen Dinge, die ihm fremd waren, letztlich sein Besitz. Allerdings nicht in der Form, in der er sie anfangs vorfand, sondern nachdem sie durch die Verwendung für Höheres auf eine neue Stufe von Heiligkeit gehoben worden waren.
So ging es nicht nur Jaakov in seiner Zeit bei Lavan, so geht es jeder jüdischen Seele bei ihrem Dienst an G-tt.
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