Ich muss ein Geständnis ablegen: Mein geistiger Mentor ist kein Rabbiner, auch kein Lehrer oder Gelehrter.
Man könnte sagen, er ist ein geistiger Führer der mehr unkonventionellen Art. Zu jung, um einen Bart zu tragen, trinkt er viel, direkt aus der Flasche. Der Großteil seines Wissens stammt von den Werken des Dr. Seuss und von einem gewissen purpurfarbenen Dinosaurier.
Es handelt sich um meinen zweijährigen Sohn.
Unter seiner Leitung habe ich neuen Zauber und neue Spiritualität im alltäglichen Leben entdeckt. Er lehrte mich, dass Spiritualität nicht etwas Abgehobenes ist, sondern Teil des Weltlichen sein kann.
In früheren Zeiten, zum Beispiel, erwachte ich morgens meistens erst nach einigem Dösen, denn, einen neuen Tag zu beginnen, fürchtete ich. Nunmehr, pünktlich um 6 Uhr früh, kommt er plappernd zu meinem Bett und holt meine Hand von unter der Decke hervor. „Auf!“ ruft er aufgeregt, während er versucht, mich aus dem Bett zu ziehen. Wie ein Armee-General gibt er seine Befehle: „Mama, auf!“
Ich frage mich, ob es irgendeinen Kaffee der Welt gibt, der diese Art von Antrieb, solch flammende Einstellung zum Morgen, geben könnte. Für meinen Sohn ist es unmöglich, unter der Bettdecke zu bleiben, wenn ein neuer Tag naht. Jeder Sonnenaufgang bringt die Gelegenheit mit sich, neue Dinge zu entdecken. Zum Abenteuer gerüstet mit seinem „Elmo“ und seinem Trinkbecher sind die Möglichkeiten unbegrenzt.
Es war einmal eine Zeit, vor vielen Jahren, da könnte ich dem Leben ähnlichen Sinn für Begeisterung entgegengebracht haben. Doch irgendwann während des Weges wurde ich zu früh alt und ermattete. Ich begann die Tage des Kalenders desinteressiert abzuhacken. Ich gleitete in den neuen Tag mehr im Bett dösend als aus ihm springend.
Doch der Optimismus meines Sohnes hat mir zu denken gegeben: Wenn ein krabbelndes Kind so begeistert über all das unvorhersehbare Potential eines neuen Tages sein kann, vielleicht ist dann auch mein Limit erst der Himmel.
Ich erinnere mich an marathonartiges Durchlaufen der täglichen Routine, für die Menschen und Dinge rund um mich unempfänglich. Nun, gemeinsam mit meinem Sohn, hat sich sogar der schnellste Sprung zum Postamt oder zum Lebensmittelladen gewandelt. Besorgungen zu machen ist mehr wie eine spirituelle Reise, die es zu geniessen gilt. Er hat mich gelehrt, jeder Blüte einer Blume Aufmerksamkeit zu schenken, die Flugzeuge, welche oben vorbeiziehen, zu bewundern, und Fremde mittels herzlichem Grüssen und weitem Lächeln zu Freunden zu machen.
Meinem Sohn auf den Fersen durch die Nachbarschaft schlendernd, entdecke ich Dinge, die ich nie bemerkt habe: Dass sogar grosse, furchterregend dreinschauende Hunde freundlich sein können, dass ein durch die Straße polterndes Auto ein Wunder besonderer Klasse ist, und – wenn man genau genug schaut – ein Löwenzahn wunderschön ist.
Am Schabbat erinnert er mich daran, dass der Ruhetag ein Geschenk ist, das unsere Familie zusammenknüpft und uns enger an unsere Gemeinde bindet. Wissend, dass unser Halten des Schabbat sich in sein Bewusstsein eingraben wird, bemerke ich plötzlich, dass ich den Details der Schabbat-Vorbereitungen mehr Aufmerksamkeit widme. Voll Bestreben, die Bedeutung des Tages ins Haus zu bringen, achte ich darauf, die Kerzenständer zu polieren bis sie glänzen und dass der Duft frisch gebackener Challa am Freitag nachmittag unser Heim füllt. Mein Mann und ich hetzen nicht mehr durch die Schabbat-Rituale wenn wir müde sind, sondern wir erheben unsere Stimmen zu Gesang und klatschen mit den Händen. Wenn mein Sohn von seinem Sessel springt und zu tanzen beginnt, machen mein Mann und ich mit. Wie wir so durch das Wohnzimmer kreisen, kommt mir vor, als würden auch die Schabbat-Kerzen tanzen, und ich fühle die Gegenwart der Königin Schabbat, uns zulächelnd. Auch meine Samstag-Morgen-Routine hat sich gewandelt. Anstatt mich mit einem Roman zu strecken und reichlich spät in der Synagoge zu erscheinen, komme ich nun früher.
Ich habe gar keine andere Wahl, denn mein Sohn treibt mich zur Eile mit Rufen von „Tora küssen!“. All die Jahre des Drängens meiner Eltern konnten mich nicht so früh zum G-ttesdienst bringen.
In unserer Synagoge hat er seinen eigenen Stil des Gebets, er entscheidet sich zu stehen, wenn die Leute sitzen und beschliesst zu sitzen, wenn sie stehen. Wenn der Vorbeter singt, singt er mit, jedoch mit seiner eigenen Melodie. Er stolziert zum Toraschrein, um die Tora zu küssen, welche er mit jener Ehrfurcht betrachtet, die sonst den Teletubbies vorbehalten ist.
Unsere Kindern die Gebote und Verbote des Judentums zu lehren, ist keine einfache Sache. Noch komplexer ist die Aufgabe, gemeinsam mit den Ritualen auch das Aroma und die Struktur des jüdischen Lebens zu vermitteln. Nachdem ich all die Bücher über Elternschaft von Dr. Spock bis „What to Expect“ gelesen habe, bin ich mir der typischen elterlichen Sorgen durchaus bewusst – wie etwa, das Kind dazu zu bewegen, gesundes Essen zu essen. Doch was mir am meisten Gedanken gemacht hat, war, wie ich den Geist meines Sohnes ernähren werde.
Vorerst scheint sein Geist den seiner Eltern zu nähren, die er unwillkürlich auf den Weg der Spiritualität geschoben hat. Durch sein Beispiel hat er in uns das Bedürfnis erweckt, das Leben in einer tieferen, lebendigeren Art zu erfahren.
Abgesehen davon, dass er, als unser Bote in die Zukunft, meinem Mann und mir ein Gefühl von Kontinuität gibt, hat er unser Geschenk erwidert. Wir haben ihm das Geschenk des Lebens gegeben. Aber er hat uns gelehrt, wie zu leben.
Ich danke dir, mein Sohn.
ב"ה
Die zwei besten Jahre meines Lebens
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