Meine Freundin Aviva kam ins Krankenhaus, um Chaya Muschka und mich zu besuchen, denn vier Wochen vorher wurde bei meiner Tochter Trisomie 18 diagnostiziert, eine Chromosomen-Anomalie. Nur fünf bis zehn Prozent der Babies mit dieser Krankheit überleben ihr erstes Lebensjahr.
„Ich verstehe immer noch nicht, warum dies ausgerechnet dir passiert“ sagte sie zu mir. Wir saßen uns auf der Intensivstation der Frühgeborenen gegenüber. Ich hielt Chaya Muschka auf dem Arm und stieß den Schaukelstuhl an. „Du und Schalom Meir, ihr seid so gute Menschen ....“
„Aber was, wenn ausgerechnet wir ausgewählt wurden, sie bei uns aufzunehmen? Was, wenn ihre Seele uns als ihre Eltern erwählt hat, für ihre kurze Mission auf der Erde, um dann heimzugehen, unversehrt und makellos?“ Die Worte rutschten mir so aus dem Mund, unverarbeitet: „Was, wenn sie unser Segen ist?“
„Aber wenn du nicht auf MICH hörst,“ sagt G-tt, „dann werde ich über dich Schrecken, Fieber, Krankheit und Seelenqual bringen. Du wirst dein Korn vergeblich säen, und wenn es keimt werden deine Feinde es essen....“ (Lev. 26:14, 16)
Wie hart!
Und das ist nicht alles. Die Tora fährt mit fast 30 weiteren Versen voller Versprechen der Vergeltung fort, – es ist schwer, sie zu lesen.
Überraschenderweise kommentiert Rabbi Schneur Salman aus Liadi auf die folgende Art die harten Worte der Tora: „In Wirklichkeit sind sie nichts anderes als Segenssprüche!“
Segenssprüche?
Und dann fährt er fort, viele von diesen Versen als Segenssprüche zu erklären, wie z.B. „zehn Frauen werden in einem Ofen Brot backen“ (ebd, Verse 26). Der Vers nimmt Bezug auf die extreme Armut, die uns peinigen wird, wenn wir uns von G-ttes Wegen abkehren. Rabbi Schneur Salman jedoch interpretiert den Vers: „Wir werden über die Einheit G-ttes nachdenken (der Ofen von „einem“) in solch einer Intensität, dass alle unsere zehn Seelenkräfte aufgezehrt werden mit glühender Liebe für IHN. Danach werden unsere Tora-Studien „gebacken“ und mariniert in dieser Liebe. Die Tora wird häufig mit „Brot“ verglichen.
Rabbi Schneur Salman deckt die getarnten Segenssprüche auf, getarnt in der Verkleidung des Unglücks. Für ihn war es offensichtlich und sichtbar, dass die Verwünschungen als scheinbarer Wert akzeptiert werden müssen.
Interessanterweise war Rabbi Schneur Salman die erste Person, die durch scheinbar unschöne Wortlaute hindurchsehen konnte. Der Talmud (Moed Katan 9a) erzählt uns die Geschichte von Rabbi Schimon Bar Jochai, dem berühmten Weisen der Mischna und Autor des Sohar, der seinen Sohn Elasar hinaus schickte, um Segenssprüche seiner Studenten Rabbi Jonatan und Rabbi Jehuda zu erhalten. Aber anstatt von ihnen Segenssprüche zu hören, bekam er nur Flüche. „Möge es G-ttes Wille sein, dass du säst, aber nicht erntest!“ riefen sie aus und fuhren mit einer Litanei an unangenehmen Wünschen fort.
Der erstaunte Elasar wiederholte seinem Vater die Flüche der Rabbiner.
„Flüche?“ antwortete Rabbi Schimon. „Das waren alles Segenssprüche. Du wirst säen und nicht ernten, heißt, dass du Kinder haben wirst, die nicht sterben werden ....“ und Rabbi Schimon fuhr fort, all die „Flüche und Verwünschungen“ zu entziffern, indem er seinem Sohn das in ihnen Enthaltene geduldig darlegte, die Rätsel entzifferte und die Segenssprüche aufzudeckte. Aber warum sprachen die Weisen auf derart umständliche Art? Warum segneten sie ihn nicht in einer Weise, die er verstand?
Rabbi Schneur Salmans Enkel, Rabbi Menachem Mendel von Lubawitsch, stellt uns genau diese Frage. Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Segenssprüche der Weisen derart erhaben und nobel waren, dass sie nicht direkt ausgesprochen werden konnten. Sie mussten durch das „Medium“ des Schlechten gehen, bevor sie als gut aufgedeckt wurden.
Wenn G-tt gut ist, und er unser Leben mit Absicht und Sinn dirigiert, dann kann es nur zwei Arten von Erfahrungen geben, die er hervorbringt: Gute Dinge, die wir als gut erkennen und gute Dinge, die wir als schlecht erkennen.
Und hier ist der Teil, der absolut nicht eingängig erscheint: Das Gute, das wir als Schlechtes erkennen, ist in der Tat das mächtigere Gute.1
Vergleiche deine persönlichen Bilanzen mit deinem offensichtlichen Lebenslauf. Die Autobiographie macht für den Leser womöglich eine Menge Sinn. Aber deine Bilanzen sind so nackt und authentisch, so sehr du.
Wenn G-tt mit uns von einem Ort aus kommuniziert, der seinem Wesen näher ist, verstehen wir ihn nicht deutlich. War das eine Umarmung? Aber es fühlte sich doch wie ein Schlag ins Gesicht an ....
Tatsächlich sagt uns der Talmud (Joma 23a), dass Menschen, die trotz ihrer Leiden in der Lage sind, glücklich zu bleiben, es verdienen werden, G-tt in seiner vollen Pracht in der messianischen Zeit zu sehen. Diese unverwüstlichen Menschen lassen weder durch Frust noch Enttäuschung ihren Glauben daran untergraben, dass alles, was von G-tt kommt, gut ist. Indem sie alles von G-tt umarmen – den Teil, den sie verstehen, und den anderen Teil, den sie nicht verstehen – erleben sie letztendlich die Vollständigkeit von G-ttes Licht. Sie haben bewiesen, dass sie auch die intensivsten Teile G-ttes umarmen können.
Also, wie decken wir das süße Gute auf, das sich in einer schlechten Hülle versteckt? Die chassidischen Meister lehren uns zu glauben, dass der mächtige Kern des Guten im Leid versteckt ist, - denn damit beginnen wir, das Bild, das es verhüllt, zu zerlegen.
„Warum passiert das ausgerechnet mir?“ Es gibt zweierlei Arten, diese Frage zu stellen. Eine ist rhetorisch, eine Art Ausruf: „Das ist nicht richtig, und hätte nicht mir passieren sollen.“ Die zweite Art ist authentisch: „Ich frage mich, warum das ausgerechnet mir passiert ist. Auf welche Weise kann dies gut für mich sein?“ Und schon die Suche nach der Möglichkeit des Guten zieht es an die Oberfläche.
Um die zweite Frage zu stellen, müssen wir lernen, durch die äußere Form einer Erfahrung hindurchzusehen und seine Tiefe zu erobern.
Rabbi Schimon bar Jochai war offensichtlich ein Mann beispielloser Tiefe. Er war der Autor des Sohar, dem elementaren Buch jüdischer Mystik. Aus diesem Grunde war es auch so natürlich für ihn, die Verwünschung als Segen zu sehen. Er brauchte nicht einmal das Äußere der Worte mit ihrer tiefen Bedeutung in Einklang zu bringen. Für ihn war das Äußere von vornherein komplett transparent.
Rabbi Schneur Salman schrieb das Buch „Tanja“, das elementare Buch chassidischer Philosophie. Genau wie Rabbi Schimon sah er alles mit Tiefgründigkeit, die Tiefe jeder Auffassung auslotend. Aus diesem Grunde las Rabbi Schneur Salman die Abschnitte der Warnungen, und auf der Stelle erfasste er ihr tiefes Verständnis, in dem alles nur gut, - und das als schlecht Erkannte in Wirklichkeit ein höherer Ausdruck G-ttes Zuneigung ist. Genau wie Rabbi Schimon brauchte er sich nicht selbst zu üben darin, das Schlechte als Gutes zu erkennen; für ihn war es so klar, wie die Sonne hell ist.
Das Lernen chassidischer Lehren, der tiefen Weisheit der Tora, trainiert unsere Augen mit unglaublicher Tiefenwahrnehmung und sensibilisiert uns dafür, das Gute auch zu entdecken, wenn wir enttäuscht sind.2
Und dennoch lasst uns einander segnen, dass wir alle Begünstigte nur des Guten sein mögen, – das Gute, das wir als Gutes erkennen!
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