Im Buch Levitikus1 lesen wir: "Jeder Mann wird über seinem Bruder stolpern." Unsere Weisen lernen von diesem Vers, dass jeder Jude für die Taten seines Mitjuden verantwortlich ist.2 Der Vers soll verstanden werden, als ob er sagen würde: "Jeder Mann wird über die Sünden seines Bruders stolpern." Diese Verantwortung wird als "Arwut" (Gewährleistung) bezeichnet.3

Die Tora verkündet: "Das Verborgene gehört Haschem, unserem G-tt und das Offenkundige ist auf immer für uns und unsere Kinder, um alle Verschreibungen der Tora zu Beachten."4 Gemäß Talmud5 bezieht sich das auf den Begriff der Arwut. Wenn die Sünden eines einzelnen "offenkundig" werden, wird das zur gemeinschaftlichen Verantwortung, falls die Gemeinde über die Mittel zu dessen Vermeidung verfügt. Wenn die Sünden geheim bleiben, ist nur G-tt allein verpfändet, dem Sünder eine Strafe zuzumessen..

Arwut bedeutet auch "Gemisch", und besagt, dass all unsere Seelen in Wirklichkeit nur ein Teil eines großen "Potpourri" sindWie in mystischen Texten erklärt, bildeten alle jüdischen Seelen eine einzige Einheit. Unsere Nation wird mit einem großen Körper verglichen, wobei jede Seele von einem seiner 248 Glieder stammt. Daher kommt auch unsere gegenseitige Verantwortung füreinander: Wir sind in Wirklichkeit eins! In der Tat bedeutet das Wort Arwut auch "Gemisch", was auf die Tatsache anspielt, dass all unsere Seelen in Wirklichkeit nur ein Teil eines großen "Potpourri" sind.6

Infolge dieser Verantwortung, ist es erlaubt, einen Segen zugunsten eines anderen Juden zu sagen. Wir sind dazu selbst nicht verpflichtet. Doch wir sagen ihn, um sicherzustellen, dass dieser Jude seine persönliche Verpflichtung erfüllt. Zwar ist das Sagen eines Segensspruches verboten, soweit wir dazu nicht selbst verpflichtet sind, - denn sonst riskieren wir, G-ttes Namen umsonst zu erwähnen. Doch wird die Verantwortung für einen Mitjuden als die eigene Verpflichtung betrachtet.

Einige praktische Anwendungen dieser Idee:

(Eine notwendige Einführung: Es gibt den halachischen Begriff schomea ke'oneh (derjenige, der hört, ist gleich demjenigen, der den Segensspruch sagt). Das bedeutet, wenn zwei [oder mehr] Menschen auf gleiche Weise verpflichtet sind, eine Mizwa auszuführen,7 wie z.B. einen Tallit anzulegen, dann sagt einer den Segensspruch8 und der andere hört zu und antwortet mit "Amen". Und derjenige, der "Amen" antwortet, wird betrachtet, als hätte er ebenfalls einen Segensspruch gesagt.9)

  • Das Prinzip der Arwut erlaubt sogar, dass der nicht dazu Verpflichtete, einen Segensspruch auf eine bestimmte Mizwa zu sagen, wie z.B. jener, der seinen eigenen Tallit bereits angezogen und den entsprechenden Segensspruch gesagt hat, - durch diesen Segensspruch die Pflicht eines Anderen zu erfüllen, die z.B. keine Kenntnis über das Sagen eines Segensspruches besitzt.10
  • Doch ist es nicht erlaubt, für eine andere Person einen Segensspruch auf ein Nahrungsmittel zu sagen, wenn derjenige, der den Segensspruch sagt, sich nicht am Essen beteiligt.11 Die Tatsache, dass ein Mitjude etwas essen möchte, wird nicht als "gemeinsame Verantwortung" betrachtet.12
  • Eine Ausnahme von dieser Regel besteht, sobald das Konsumieren eines Nahrungsmittels oder eines Getränkes eine Mizwa ist – wie z.B. Kiddusch oder der Segen über das Mazzotessen am Pessach-Seder; Hier ist es erlaubt, den Segensspruch zugunsten einer Person, die selbst dazu nicht imstande ist, zu sagen, selbst wenn der den Segensspruch Sagende die betreffende Mizwa bereits ausgeführt hat.13
  • Arwut bezieht sich auch auf jene Menschen, die eine entsprechende Mizwa zwar noch nicht ausgeführt haben und sie zugunsten einer anderen Person tun möchten, doch nicht beabsichtigen, die eigene Verpflichtung zu erfüllen, wie z.B. am Freitagnachmittag, kurz vor Schabbat:14 Ein Arzt besucht seinen Patienten im Spital, so darf er für ihn Kiddusch sagen, auch ohne dabei zu beabsichtigen, die Mizwa des Kiddusch selbst zu erfüllen. Sonst wäre es dem Kiddusch Sagenden verboten, hinterher nach Hause zu fahren.15
  • Den Schabbatmorgen-Kiddusch dürfen wir für eine andere Person sagen, die selbst noch kein Kiddusch gehört hat, egal ob die Person, für die das Kiddusch gesagt wird, es auch selbst hätte tun können. Dieses Kiddusch enthält keinen zusätzlichen Segensspruch zum Segensspruch auf den Wein, den derjenige, der das Kiddusch sagt, sowieso selbst kostet.16
  • Arwut ist auch die Basis für die Mizwa, unseren Mitjuden zurechtzuweisen, falls er eine unangemessene Tat begeht Diese Mzwa bezieht sich auf Männer wie Frauen, egal wer von ihnen jetzt den Segensspruch sagt und wer ihn hört. Denn in diesen Bereichen sind sie im gleichen Mass dazu verpflichtet, die betreffenden Mizwot auszuführen. Jedoch gibt es auch Mizwot, zu denen die Frauen nicht im gleichen Mass verpflichtet sind und somit für das Beachten der Männer jener Mizwot keine Verantwortung übernehmen können.17 Das bedeutet, dass eine Frau nicht den Segen über Mizwot wie Schofar, Lulaw oder eine andere Mizwa, zu der sie nicht verpflichtet ist, die sie aber ausführen darf, wenn sie es wünscht, zugunsten eines Mannes sagen darf – selbst wenn er nicht dazu imstande ist, den Segensspruch selbst zu sagen.
  • Wegen der Mtzwa des Chinuchs (Kindererziehung), ist es einem Erwachsenen erlaubt, für die Kinder - die eigenen oder fremde - Segenssprüche, sogar über Nahrungsmittel, zu sagen. Der Erwachsene darf in diesem Fall den ganzen Segensspruch sagen, selbst wenn er nicht selber von diesem Nahrungsmittel kostet. Das Kind kann "Amen" sagen und sich am Essen beteiligen.18

Arwut ist auch die Basis für die Mitzwa, unseren Mitjuden zurechtzuweisen, falls er eine unangemessene Tat begeht.19 Das bedeutet, wenn wir die gerade zu begehende Sünde eines anderen Juden kennen, dann haben wir die Verantwortung, ihn davon abzuhalten. Sind unsere Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt, sollten wir es nochmals versuchen.20 Offensichtlich soll diese Zurechtweisung so erfolgen, dass sie der Sünder annehmen kann und nicht, dass er sich noch weiter entfremdet. Falls die Zurechtweisung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die gewünschte Wirkung erzielt, ist es besser, darauf zu verzichten.21