Frage?
Ich muss mit chronischen Schmerzen leben. Wie soll ich diese ertragen?
Antwort!
Ich schob die Beantwortung dieses Brief sehr lange auf, denn was ich dazu sage, könnte zu überheblich klingen: Es ist uns unmöglich, den Schmerz des Mitmenschen zu fühlen, weil wir ihn nicht ertragen könnten. Noch schlimmer wäre die Nichtbeantwortung eines solchen Briefes.
Einleitend möchte ich darauf hinweisen, dass der Begriff Schmerz mir nicht fremd ist. Denn seit frühester Kindheit, während der ich die längste Zeit ans Bett gefesselt war, bis zu meinen gegenwärtigen 50 Jahren, war Schmerz immer mein "treuer" Begleiter. Empfinden sie das Folgende deshalb bitte nicht als Dreistigkeit.
Schmerz ist beides – ein Freund und ein Feind: Er ist sowohl ein unentbehrlicher Bestandteil unseres Daseins, als auch eine unser Dasein erschwerende, sogar unmöglich machende Last.
Wieso ein Freund? Der Schmerz lässt uns unser physisches Dasein übersteigen und sagen: "Das bin nicht ich, der da leidet, es ist lediglich mein Körper. Mein wahres Ich bleibt unversehrt, gesund und munter."
Aus der richtigen Perspektive betrachtet, kann der Schmerz den Menschen zur richtigen Gelegenheit auf eine viel höhere Ebene erheben, die er ohne Schmerz nie erreicht hätte. Er ist ein Geschenk von G-tt, denn die wirklich wertvollen Geschenke, die Er für uns reserviert, empfangen wir nur durch unser Bemühen. Daher ist er nicht nur "als Mittel zu einem guten Zweck" gut, sondern er ist wahrhaftig gut. Leider sind wir uns seiner Wohltat nicht ganz bewusst. Doch würde ich mir nie eine solche Behauptung erlauben, wenn Rabbi Schneor Salman von Liadi es nicht in seinem Werk "Tanja" bereits geschrieben hätte (26. Kapitel), und uns mitteilt, dass Schmerz und Leid - ein verstecktes Gut, dessen Wohltat aber nicht offensichtlich ist - in Wirklichkeit ein viel erhabeneres Gut darstellt, als jenes, dessen Nutzen wir nicht anzweifeln. Über Menschen, die selbst bei Unvorhergesehenem zuversichtlich auf die Erkenntnis hoffen, dass alles nur zu ihrem eigenen Besten war, sagt das Psalmenbuch (94:12): Glücklich sind diejenigen, die der Ewige (hier durch die Buchstaben Jud und Hej bezeichnet, die auf das verborgene Gut hindeuten) züchtigt: Es bedeutet eine viel größere Nähe zu G-tt, wenn wir unser Vertrauen ausgerechnet dann auf Ihn setzen, wenn die weltlichen Umstände dagegen sprechen.
Dieser Gedanke kann bereits den Schmerz lindern, - vergleichbar dem plagenden Hunger an Fasttagen, den wir durch motivierende Gedanken verdrängen: Wir stellen uns vor, dass dank unseres an jenen Tagen eine große Mizwa darstellenden Fastens, Soldaten in Israel beschützt werden, oder ein amerikanischer Jude sich zur Heirat mit einer jüdischen Frau entscheidet. Wenn wir wissen, dass eine Operation die einzige Möglichkeit gesundheitlicher Wiederherstellung ist, dann fällt es uns viel leichter, die mit diesem Eingriff verbundenen Schmerzen zu ertragen. Wir sollten versuchen, daran zu denken, dass der Schmerz uns in Wirklichkeit moralisch aufrichtet, unsere Seele heilt, und somit Leben und Wirklichkeit aus einem günstigerem Aussichtspunkt sehen lässt, den kein anderer kennt.
Rabbi Jehuda Hanassi litt viele Jahre an starken Zahnschmerzen. Doch während dieser Leidenszeit starb keine einzige Frau bei der Geburt oder verlor vorzeitig ihr Kind.
Der Talmud im Traktat Sanhedrin sagt, dass Rabbi Akiwa’s Lehrer, Rabbi Eliezer, eines Tages sehr schwer erkrankte. Seine Schüler versuchten, ihn aufzumuntern, indem sie ihn an all das Gute erinnerten, was er getan hatte, und wie sehr er gebraucht würde. Doch diese Versuche hatten keinen großen Erfolg, - bis Rabbi Akiwa sagte, dass er selbst mit seinen Schmerzen unvorstellbar viel Gutes bewirkt, - und das tröstete ihn schließlich.
Solche Gedanken können Schmerzen manchmal erträglicher machen. Aber der Schmerz ist auch ein Feind. Er verhindert, unsere Kraft, unseren Geist, unser Talent in jene Aktivitäten zu investieren, von denen wir und unsere Mitmenschen profitieren könnten. Er erschwert, fröhlich und dankbar für diese einzigartige Gelegenheit zu sein: Solange die Seele einen physischen Körper belebt, beeinflussen ihre Taten auch die erhabensten Welten. Eine der größten Freuden ist es deshalb für G-tt, wenn sich der Mensch dessen bewusst wird, darüber freut, und trotz der Schmerzen seine Pflicht erfüllt. Dann ist der Einfluss dieses Vertrauens wahrhaftig jenseits von allem Vorstellbaren.
Manchmal müssen wir jedoch den Feind bekämpfen, indem wir dem Schmerz entgegentreten: "Vielen Dank für die gebotenen Gelegenheiten, doch komme ich auch ohnedem selbst zurecht: Ich schlussfolgere auch allein, dass mein wahres Ich nicht dieser Körper ist. Bescheidenheit möchte ich selbstständig erlernen. Daher werde ich dich einfach ignorieren und mich anstrengen, Nützliches zu tun und den Schöpfer zu loben, - trotz all deinen Bemühungen, mir diese Arbeit zu erschweren."
Ich weiß, dass es absurd erscheint, beide Strategien gleichzeitig anzuwenden: Einerseits dem Schmerz dankbar zu sein, und ihn andererseits zu bekämpfen! Doch daraus besteht das Dasein des Juden. Allein schon die Tatsache, dass unsere G-ttliche Seele sich in einer materiellen Welt befindet, ist absurd. Der Ewige wollte es, so dass wir damit irgendwie zurechtkommen müssen. Zweieinhalb Jahre haben sich Schamai und Hillel über der Frage gestritten, ob es für den Menschen behaglich ist, erschaffen worden zu sein. Sie kamen zum Schluss, dass es nicht behaglich ist. Weil aber der Mensch schon hier ist, soll er sich mit dem Tora-Lernen beschäftigen. Diese Welt ist nur ein Korridor zur kommenden Welt. Selbst ein Leben voller Schmerzen ist wertvoll, denn es führt in eine Welt, in der es sich lohnt, all diese Schwierigkeiten zur Erreichung dieses Zieles auf sich genommen zu haben.
Der Rebbe würde Ihnen raten, die medizinische Behandlung fortzusetzen, eventuell noch einen größeren Spezialisten auf diesem Gebiet aufzusuchen oder Alternativen auszuprobieren. Doch verlassen Sie sich dabei nie auf die vom Arzt verordneten Medikamente: Denken Sie nie, dass dieser Arzt oder jene Klinik Sie retten wird. Die Heilung des Juden ist einzig und allein G-ttes Werk. Trotzdem müssen wir ein paar naturbedingte Mittel bereitstellen, um die Heilung in unserer Welt durchzuführen.
Alles von mir Beschriebene basiert auf den Briefen des Rebbe. Ich würde mir nicht erlauben, einem von Schmerzen geplagten Menschen vorzuschreiben, wie er damit umgehen soll, wenn es sich um meine eigenen Ideen handeln würde.
Der Rebbe würde Ihnen empfehlen, Ihre Mesusot und Ihre Tefillin überprüfen zu lassen. Unsere Krankheiten sind nur Symptome. Die Wurzeln allen Leidens sind grundsätzlich auf Leckstellen in unserem spirituellen Leben zurückzuführen. Falls Sie keinen Rabbiner haben, mit dem Sie sich in diesen Angelegenheiten beraten können, wenden Sie sich bitte an das nächste Chabad-Zentrum, denn die Chabad-Zentren wurden speziell dazu gegründet, Ihnen beim Beachten von G-ttes Geboten kostenlos behilflich zu sein.
Zwar weilt der Rebbe physisch nicht mehr unter uns, doch bitten ihn viele Menschen um seinen Segen, und lesen seine Briefe, die er jenen Ratsuchenden schrieb. Der Rebbe investierte seine ganze Seele in diese Briefe. Wenn wir also seine Briefe lesen, verbinden wir uns mit seiner Seele, die uns dann in unserer Angelegenheit weiterhilft.
Mit den tiefstempfundenen Segenswünschen und in der Hoffnung, dass sich alles bald zum Guten wenden wird – warte ich auf erfreuliche Nachrichten.
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