Ich lese regelmäßig wöchentliche Tora-Kolumnen, die ich per E-Mail empfange. Die Absender sind Rabbiner und andere Autoren aus der ganzen Welt. Jedes Jahr, wenn ich Artikel über Noach und die Flut lese, frage ich mich, ob Noach wirklich so viel Kritik verdient hat.

Die Tora berichtet, dass er ein frommer Mann war, und fügt fast nebenbei hinzu: „zu seiner Zeit“. Das mag ein schwaches Lob sein, und manche Kommentatoren bemühen sich, diese kaum verhüllte Kritik zu rechfertigen. Aber es ist doch erstaunlich, wie viel Aufwand im Laufe der Jahre getrieben wurde, um jene Charakterfehler Noachs zu beschreiben, die vielleicht erklären können, warum er nicht ganz so vorteilhaft beschrieben wird.

Manche meinen, Noach verdiene Kritik, weil er zwar sich und seine Familie retten wollte, sich aber nicht um die anderen gekümmert habe. Eine subtilere Variante lautet: Er war von der Hoffnungslosigkeit der Situation überzeugt und versäumte es daher, für die Rettung der anderen zu beten. Vorgeworfen werden ihm auch sein schwacher Glaube und angeblich noch größere Unzulänglichkeiten.

Es ist sonderbar, dass wir uns solche Mühe geben, die Schwächen eines Menschen zu betonen, vor allem die einer so komplexen Persönlichkeit wie Noach. Denken wir doch einmal an die Last, die er jeden Tag zu tragen hatte: Er war der einzige Gläubige in einer sündigen Welt, und er verbrachte einen erheblichen Teil seines Lebens damit, auf G–ttes Befehl mit eigenen Händen eine Arche zu bauen, während seine Mitmenschen ihn bedrohten und verspotteten. Er war der erste Umweltschützer, denn er trug die Verantwortung für das Überleben von Pflanzen und Tieren nach der Flut, und er hatte die Kraft und die Zuversicht, in hohem Alter eine neue Welt aus den Ruinen der alten aufzubauen.

Und doch ... Obwohl Noach jeden Augenblick seines langen, ehrbaren Lebens G-tt weihte, meint die Tora, dass er mehr hätte tun können. Es gibt eben einen subtilen Unterschied zwischen der Hingabe zu G-tt und der Hingabe zu den Pflichten, die G-tt uns auferlegt.

Der fünfte Rebbe von Chabad Lubawitsch, Rabbi Schlomo Dow Ber, nahm einmal an einer Rabbinerkonferenz teil, die auf Geheiß der russischen Regierung das traditionelle jüdische Bildungssystem drastisch ändern sollte. Die Rabbiner riskierten ihre Freiheit und ihr Leben, weil sie leidenschaftlich versuchten, unser gemeinsames Erbe zu bewahren.

Als die Konferenz zu Ende war, wollte Raw Chaim aus Brisk sich vom Rebbe verabschieden. Er fand ihn weinend in seinem Hotelzimmer.

„Lubawitscher Rebbe“, rief er, „Ihr braucht nicht zu weinen. Ihr habt alles Getan, was in Eurer Macht stand!“

„Vielleicht. Dennoch ist es uns nicht gelungen, die Pläne der Regierung zu vereiteln.“

Wenn Sie sich als Angestellten G-ttes betrachten, dann können Sie ruhig schlafen, sofern Sie Ihr Bestes getan und sich ehrbar und verantwortungsbewusst verhalten haben.

Aber wenn Sie sich weniger um Ihre eigenen Verdienste kümmern und sich stattdessen auf G-ttes Ziele und Wünsche konzentrieren, können Sie niemals nachgeben oder sich entspannen, einerlei, wie groß die Herausforderungen und Probleme sind.

Noach verstand die Situation und erkannte, dass seine Gebete nichts daran ändern würden. Hätte er es dennoch versuchen müssen? Man kann ihm nicht vorwerfen, dass nur er gerettet wurde; aber wir dürfen nie Frieden mit einem System schließen, in dem viele verloren sind und wenige gerettet werden.

Wer von uns kann ehrlich behaupten, auf unserem lebenslangen Weg zur Rettung der Welt jede Chance genutzt zu haben? „Wenn die Welt sich hartnäckig gegen jede Veränderung wehrt, darf ich dann meine Bemühungen einfach aufgeben? Noach tat, was er unter den damaligen Bedingungen tun konnte; aber die Tora lehrt uns, dass wir es nicht hinnehmen dürfen, dass andere Menschen in körperlicher oder spiritueller Gefahr sind, dass wir uns nicht mit Selbstrettung begnügen dürfen, sondern immer und immer wieder versuchen müssen, die Welt zu retten, auch wenn es gefährlich ist.