Die Worte des Rebben hallten in seinem Kopf wider: „Bring Deinem Vater diesen Wein!“ Alle Warnlampen leuchteten in seinen Gedanken auf. Er konnte vor Schreck kaum sprechen. „Bring Deinem Vater diesen Wein!“, wiederholte der Rebbe, als würde er auf seine Zustimmung warten. Doch er sagte nichts. Als der Rebbe zum dritten Mal wiederholte: „Bring Deinem Vater diesen Wein!“, fing er am ganzen an Körper zu zittern.
Menasche Schanschwilli war vierzehn Jahre alt, als seine Eltern ihn im Jahre 5733 (1973) in die Jeschiwa „Tomche Temimim“ in Ocean Parkway, New York schickten, nicht weit vom Lehrhaus des Lubawitscher Rebben „770“ entfernt. Er war mit einigen Freunden in die Jeschiwa gekommen. Sie alle waren mit ihren Eltern von Georgien nach Israel eingewandert. Nun wollten sie verhindern, dass ihre Kinder sich in Israel assimilieren würden. Die Trennung von der Familie war nicht leicht für Menasche und seine Freunde, doch die Jeschiwa tat alles, um es den Schülern so angenehm wie möglich zu machen. Sie beteten gemeinsam mit dem Rebben und nahmen auch an den chassidischen Versammlungen teil. Sie hatten des Öfteren das Privileg, eine Privataudienz mit dem Rebben zu haben, der sich sehr für ihr Wohlergehen interessierte.
Die folgende Geschichte trug sich am letzten Tag von Pessach des Jahres 5734 (1974) zu. Der Rebbe veranstaltete an jenem Tag eine Versammlung, die sich sieben Stunden lang hinzog. Danach wurde gebetet, und der Rebbe sprach den Hawdala-Segen auf einen Becher Wein. Im Anschluss daran schenkte er Wein aus seinem Becher aus, indem er es immer wieder anfüllte und an tausende Menschen schluckweise ausgab. Als Menasche dran war, sah der Rebbe ihn an und lächelte. Als er den Wein in das Glas von Menasche ausschenkte, sagte er: „Bring Deinem Vater diesen Wein!“ Menasche hatte seinem Vater schon öfters Hawdala-Wein geschickt, jedoch noch nie auf Wunsch des Rebben. Daher war sein Schrecken groß. Doch er tröstete sich mit folgendem Gedanken: „Wenn etwas Schlechtes passiert sein sollte, so hat der Rebbe sich sicher schon darum gekümmert…“.
Menasche eilte zum nächsten Telefon. Seine Eltern hatten daheim kein Telefon, daher rief er bei ihrem Nachbarn an. Als dieser abhob, fragte er gleich: „Ist alles in Ordnung mit meinem Vater?“ Der Nachbar antwortete: „Dein Vater ist nicht Zuhause“. Die ausweichende Antwort des Nachbarn verstärkte die Sorge des Sohnes. Er versuchte nochmals, den Nachbarn zu einer klaren Antwort zu bewegen, doch es blieb bei seinen Ausweichversuchen. Dies ging einige Tage so weiter, bis Menasche seine Geduld verlor. „Wenn Du mir nicht erzählst, was mit meinem Vater passiert ist, werde ich Dich jede Minute anrufen! Ich werde Dir keine Ruhe lassen!“, drohte er. „Bald werde ich Dich mit ihm verbinden“, sagte der Nachbar nun. Kurz darauf traf Menasche zufällig auf einen georgischen Juden, der kürzlich aus Israel angereist war. Er fragte ihn nach seinem Vater, und dieser hatte besorgniserregende Neuigkeiten für ihn: „Ich habe ihn am Flughafen gesehen. Er hatte einen Verband an der Hand und am Kopf, aber er ging auf eigenen Beinen“.
Als er endlich Gelegenheit hatte, mit seinem Vater zu sprechen, kam die ganze Geschichte heraus. Die Sache hatte sich am Morgen nach Pessach in Israel abgespielt. Daniel Schanschwilli, ein Taxifahrer, chauffierte den Chacham Rafael Eliaschwilli, den Oberrabbiner der georgischen Juden in Israel, und seine Frau nach Jerusalem. Beim Aufstieg nach Jerusalem tauchte auf einmal ein Autobus auf, der sich mit enormen Tempo unkontrolliert auf sie zu bewegte. Daniel erkannte die Gefahr sofort. Er blieb stehen und wies die Insassen an, herauszuspringen. Er selbst schaffte es nicht mehr. Der Autobus traf das Taxi mit voller Wucht, überrollte es und drückte es vollkommen platt. Die Rettungskräfte konnten den Fahrer befreien, doch es waren keinerlei Lebenszeichen mehr zu erkennen. Sie deckten ihn mit einem Leintuch zu und kümmerten sich um andere Opfer. Als sie sich später um den Verstorbenen kümmern wollten, waren sie schockiert: Der Tote war nicht mehr unter dem Leintuch!
Zu jener Zeit gab es in Israel Meinungsverschiedenheiten wegen Autopsien. Religiöse Familien entführten zumal die toten Körper ihrer verstorbenen Verwandten, um sie vor der Autopsie zu bewahren. Die Rettungskräfte nahmen daher an, dass man die Leiche entführt hatte. Sie sahen einen Mann in der Umgebung umhergehen und fragten ihn: „Haben Sie den Fahrer gesehen?“
„Ich bin der Fahrer“, sagte der Mann. Die Einsatzkräfte staunten: „Wie kann das sein? Wir hatten Dich doch schon zugedeckt!“
Der Sohn fragte den Vater nun nach dem genauen Zeitpunkt des Unfalls. Laut polizeilichen Aufzeichnungen hatte er sich um 9:30 Uhr in der Früh israelischer Uhrzeit ereignet. Zur exakt derselben Zeit, um 2:30 Uhr in der Nacht, hatte Menasche den Wein aus dem Becher des Rebben erhalten.
Menasche fand bald jemanden, der nach Israel reiste und schickte mit ihm den Wein für seinen Vater. Nach etwa zwei Monaten besuchte er seine Eltern in Israel und hörte weitere Details: „Ich bin mit dem Leintuch auf meinem Gesicht aufgewacht. Ich danke G-tt dafür, dass ich noch lebe! Aber wie ich überleben konnte, weiß ich nicht! Auch die Ärzte konnten keine Erklärung finden.“
Daniel ließ sich in Lod nieder und erlebte noch Enkel- und Urenkelkinder.
Diskutieren Sie mit