Frage?

Ich hatte immer den Eindruck, dass im Judentum niemand zwischen dem Menschen und G-tt steht, und deshalb unser Beten zu Verstorbenen g-tteslästerlich und von der Bibel ausdrücklich verboten sei. Aus diesem Grund frage ich mich, warum es erlaubt ist, den Rebben darum zu bitten, im Ohel für uns ein gutes Wort einzulegen?

Antwort!

Jüdische Sitten können tatsächlich verwirrend sein. Im Judentum geht es um eine direkte Verbindung zu G-tt, weshalb jede Form von Vermittlern als Götzendienst betrachtet wird. Trotzdem finden wir in der jüdischen Geschichte Beispiele, dass es die Juden gewohnt sind, gerechte Männer und Frauen darum zu bitten, bei G-tt ein gutes Wort für sie einzulegen.

Moses wurde viele Male darum gebeten, für das jüdische Volk zu vermitteln. Moses ging auf jede solche Bitten ein. Hätte er das nicht getan, gäbe es uns heute nicht. G-tt schien diese Bitte gebilligt zu haben. Ebenso finden wir im Talmud (Baba Batra 11a), den Text: “Wenn es einen Kranken in deinem Hause gibt, gehe zum Gelehrten der Stadt und bitte ihn, für den Kranken zu beten.” Das bedeutet natürlich nicht, dass des Kranken und seiner Familie Gebete wertlos oder überflüssig wären. Im Gegenteil: Jeder Jude, der von der Krankheit eines anderen Juden erfahren hat, ist verpflichtet, für diesen zu beten. Wir sollen aber trotzdem auch zum Gelehrten gehen.

Das gleiche gilt auch für das Besuchen von Gräbern. Zwar verbietet uns die Tora ausdrücklich, wie Sie ganz richtig festgestellt haben, die Toten zu beschwören. Die Totenbeschwörung ist eine der Abscheulichkeiten, die von den kanaanitischen Völkern vor unserer Ankunft in Erez Israel praktiziert wurde. Trotzdem besteht diese uralte und beliebte Sitte, die Gräber von gerechten Männern und Frauen zu besuchen, um dort zu beten.

Bereits in der Tora selbst wird über Kalev (einem der zwölf von Moses zur Erkundung des Landes Kanaan ausgesandten Spione) berichtet, dass dieser einen Privatabstecher nach Chevron machte. Dem Talmud (Sota 43b) zufolge, betete er dort am Grabe von Awraham, Sara, Jizchak, Riwka, Jakow und Lea um Gnade, und ging tatsächlich heil aus der unheilbringenden Spionageaktion hervor.

Außerdem berichtet der Talmud (Taanit 16a) von dem Brauch, an einem Fasttag einen Friedhof zu besuchen. Zu der Frage, wozu das gut sein soll finden wir, wie es für den Talmud typisch ist, zwei Meinungen: Die eine besagt, dass ein Friedhof der ideale Platz ist, die Fastenden an ihre eigene Sterblichkeit zu erinnern und uns das Gefühl der Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit zu nehmen. Die andere Meinung besagt, dass wir am Friedhof die Seelen der dort begrabenen, verstorbenen Gerechten darum bitten sollen, für uns zu vermitteln. Der Sohar verstärkt diese Meinung noch, indem er sagt, dass ohne eine Vermittlung dieser Seelen in der jenseitigen Welt, unsere diesseitige Welt keinen Augenblick bestehen könnte.

Wo liegt dann aber der Unterschied zur Totenbeschwörung? Und warum übertritt unsere Bitte an einen lebendigen oder bereits verstorbenen Zaddik für uns einzustehen, nicht das Verbot eines Vermittlers zwischen G-tt und dem Menschen?

Rabbi Mosche Schik (unter dem Namen "der Maharam Schik" bekannt), ein Schüler des Chatam Sofer, beschäftigte sich mit genau dieser Frage und kam zu folgender Erklärung:

Ein Jude darf sich keines Vermittlers bedienen und Nichts darf zwischen G-tt und dem Menschen stehen.

Wie jedoch bereits festgestellt, darf ein Jude einen anderen Juden darum bitten, für ihn ein Zwischenmann zu G-tt zu sein.

Rabbi Schik erklärt diese offensichtliche Anomalie im Namen seines Lehrers, dem Chatam Sofer. Wenn ein Jude einem anderen Juden von seinem Leiden berichtet, leidet der andere Jude, als ob es sein eigenes Leid wäre und beide suchen im Gebet Zuflucht bei G-tt. Der andere Jude hat also nicht das Gefühl, für jemand anderen zu beten, sondern betet für sich selbst.

Anders ausgedrückt bilden alle Juden einen einzigen Körper. Schmerzt der kleine Zeh, brauchen wir Kopf und Herz, um den Schmerz zu beheben. Ebenso kann ein Jude in Not alle anderen Juden, besonders jene, die den Kopf und das Herz unseres Volkes ausmachen, darum bitten, für ihn zu beten. Wenn es einem Juden schlecht geht, leiden alle Juden gleichermaßen.

Über die bereits Verstorbenen erklärt Rabbi Schik, dass laut Talmud und Sohar die gerechten Seelen, die von dieser Welt in die nächste gerufen wurden, weiterhin in Kontakt mit ihren Familien und Schülern bleiben, und sich um deren Probleme kümmern. Wir bitten sie, für uns zu beten, weil wir wissen, dass sie uns hören und ihre Gebete oft wirksamer sind, als unsere eigenen. Denn diese Seelen können aus ihrer erhobenen Sicht unsere Probleme besser einschätzen, als wir von unserer beschränkten Perspektive.

An einem Grabe zu beten ist in gar keiner Weise eine "Totenbeschwörung". Wir fordern die Toten nicht dazu auf, aus dem Grabe aufzustehen und vor uns zu erscheinen. Wir beten auch die Toten nicht an, G-tt verhüte! Das wäre in jedem Falle verboten. Wir versuchen, uns mit ihrer Seele in Verbindung zu setzen, da wir Juden auf Seelenebene alle Eins sind.

Indem wir um ihre Hilfe bitten, zeigen wir, dass wir davon überzeugt sind, dass die Gerechten niemals wirklich sterben, die Wahrheit niemals wirklich verloren geht und nicht einmal das Grab uns daran hindert, uns mit unseren großen Lehrern und gerechten Seelen zu verbinden. Ebenso, wie sich dieser Zaddik während seines Lebens der Probleme anderer Juden, wie seiner eigenen, angenommen hat, so fühlt er immer noch unseren Schmerz und betet mit uns.

Auch der Sohar lehrt uns, dass ein Zaddik nach seinem Tode uns näher ist, als zu seinen Lebzeiten. Während seines Lebens wird ein Zaddik von seinem irdischen Körper beschränkt. Nach seinem Tode ist er von dieser Beschränkung befreit. Sein Mitgefühl und seine Liebe für alle Juden jedoch bleiben immer erhalten. Ebenso, wie er in seinem Leben die Grenzen zwischen "ich" und "du" unbeachtet ließ, so kann er auch jetzt die Grenzen zwischen diesem Leben und dem Leben in der jenseitigen Welt unbeachtet lassen.

Das sind die Gründe für diesen Brauch, eine verstorbene Person darum zu bitten, für uns zu beten, - ein Brauch, der sich in jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt durchgesetzt hat.