Zur Zeit von König Salomon lebte in Israel eine arme Witwe mit ihren Kindern. Sie hausten in einer armseligen Hütte und fristeten ein kärgliches Dasein. Dennoch blieb die Witwe zuversichtlich. Sie und die Kinder waren zwar arm, aber sie freuten sich über die einfachsten Dinge des Lebens.

Die Frau und ihre Kinder hatten einen kleinen Garten vor dem Häuschen, der etwas Gemüse lieferte. Ihre wichtigste Nahrung war jedoch das Brot, das die Frau jeden Tag buk. Denn sie ging jeden Tag auf die Felder und sammelte die Ähren, die nach jüdischem Brauch für die Armen bestimmt waren. Sie mahlte das Korn, nahm das Mehl mit nach Hause und buk daraus drei Laibe.

Nun könnte man meinen, eine so arme Frau habe ihr hart erarbeitetes Essen eifersüchtig gehütet; aber diese Frau verhielt sich anders. Ihre größte Freude bestand darin, Gäste zu empfangen und täglich zwei ihrer drei Brotlaibe Menschen zu geben, denen es noch schlechter ging als ihr.

Eines Tages holte die Witwe gerade die duftenden Laibe aus dem Ofen, während ihre hungrigen Kinder sie erwartungsvoll umringten. Als das Brot abkühlte, klopfte ein Bettler an die Tür, der im Dorf lebte und die Witwe gut kannte. Er war schon oft Nutznießer ihrer Großzügigkeit gewesen. Auch diesmal verließ er die kleine Hütte mit einem ganzen Brotlaib unter dem Arm. Davon konnte er sich einen ganzen Tag lang satt essen. Kurz danach kam eine Frau, ebenfalls eine häufige Bittstellerin. Sie war nicht so alt, doch ihre trüben Augen und ihre schweren Beine verrieten, dass auch sie zu den Bedürftigen zählte, die von der Güte der Witwe profitierten. Sie bekam ebenfalls einen ganzen Laib Brot und segnete ihre Wohltäterin.

Nun endlich setzten sich die Kinder an den Tisch, und ihre Mutter griff nach dem Messer, um den dritten Laib zu verteilen. Die Erwartung und der Hunger der Kleinen hatten ihren Höhepunkt erreicht. Wie köstlich das Brot duftete! Doch in diesem Augenblick klopfte es erneut an die Tür. Sie öffneten und sahen einen ausgezehrten Jungen auf der Schwelle. Ein „Schützling“ der Witwe hatte ihn geschickt, wohl wissend, dass sie ihm helfen würde. Als die Frau hörte, dass er seit Tagen nichts gegessen hatte, gab sie ihm den letzten Brotlaib. Ihren enttäuschten Kindern versprach sie, mehr Korn zu sammeln und neues Brot zu backen.

Wieder ging sie auf die Felder, hob Ähren auf und machte sich auf den Heimweg. Plötzlich riss ihr ein Windstoß den Sack aus der Hand und wirbelte ihn hoch in die Luft. Das war zu viel für die erschöpfte Frau. Sie setzte sich auf einen Baumstumpf und weinte bitterlich. Sie konnte doch nicht mit leeren Händen zu ihren hungrigen Kindern zurückkehren!

Also ging sie zum Königspalast, der für alle Untertanen offen stand. Salomon, der weiseste aller Menschen, konnte ihr gewiss einen Rat geben. Sie betrat den Palast und stand bald im großen Thronsaal. Nie zuvor hatte sie eine solche Pracht gesehen. In einiger Entfernung von ihr saß der König, und er winkte sie zu sich. Ihr Kummer gab ihr Mut, und sie ging zum König. Als sie vor ihm stand, erzählte sie ihm die ganze Geschichte, ohne etwas auszulassen.

Kaum war sie fertig, traten drei Händler mit einer schweren Kiste ein. Einer von ihnen berichtete: „Wir segelten weit draußen auf dem Meer, als sich plötzlich ein heftiger Sturm erhob. Unser Schiff bekam ein Leck, füllte sich schnell mit Wasser und drohte zu sinken. Wir beteten zu G-tt und flehten um Rettung, und wir schworen, die Hälfte unseres Schatzes zu verschenken, wenn wir gesund an Land kommen würden. G-tt hat uns geholfen, gelobt sei er; und nun sind wir hier, um unser Versprechen einzulösen.“

König Salomon hörte zu, schickte sie zurück zum Schiff und trug ihnen auf, ihm zu bringen, was sie im Leck finden würden. Sie gingen und kehrten bald mit einem nassen Sack zurück. Nun wandte sich der König der Frau zu und sagte: „Siehst du, dein Sack mit Getreide hat das Leck im Schiff zugestopft. Darum gehört diese Kiste mit Gold dir. Weil du immer anderen geholfen hast, hat G-tt dir geholfen. Geh in Frieden nach Hause zu deinen Kindern.“

Als die Witwe zu Hause ankam, warteten ihre hungrigen Kinder schon auf sie. Sie hatten sich große Sorgen gemacht, aber die Angst verwandelte sich in Freude, als die Mutter ihnen von ihrem wundersamen Erlebnis erzählte. Sie trug ihnen ein festliches Mahl auf und gelobte insgeheim, die Mizwa der Gastfreundschaft künftig den veränderten Umständen anzupassen. Und so hatten die Armen und Hungrigen der Umgebung auch fortan Grund genug, sie zu preisen.