Einmal lebte ein reicher Jude am Rande einer Stadt. Er hatte dort gebaut, damit ärmere Leute ihn nicht störten. Seine ganze Familie teilte diese Einstellung. Sie alle hielten sich von ihren weniger glücklichen Brüdern und Schwestern fern. Allerdings studierte der Geizkragen gerne die Tora. Um sich ganz seinem Studium widmen zu können, baute er eine wunderschöne Studienhalle auf seinem Grundstück. Dort mischte er sich jeden Tag unter die Toragelehrten, die zum Studium kamen.

Eines Tages erschien ein ärmlich aussehender Fremder. Man sah, dass er gelehrt war; aber niemand wusste, dass er einmal reich gewesen war. Nach dem Verlust seines Vermögens war er von Stadt zu Stadt gewandert, jedoch ohne jemals um Essen zu bitten. Wenn ihm jemand etwas anbot, nahm er es; aber er bat nie darum. Der Wanderer war sehr schwach, als er die Studienhalle betrat, denn er hatte seit drei Tagen nichts gegessen. Gewiss würde ihn hier jemand zum Essen einladen.

Der Fremde schloss sich einer Gruppe an, die lebhaft über den Talmud diskutierte. Alle waren erstaunt über seine Gelehrsamkeit, vor allem der Geizige, der sich gerne mit intelligenten Leuten unterhielt. Stunden vergingen, und bald war Essenszeit. Der Geizige lud den Fremden zu sich nach Hause ein, um dort weiter zu diskutieren, und der Mann freute sich schon auf das Essen.

Der Geizige wusch sich die Hände, forderte den Gast aber nicht dazu auf. Ein üppiges Mahl wurde serviert, aber nur eine Portion. Der Fremde erschrak. Nachdem der Geizhals einen Bissen Brot und eine dicke Scheibe Braten verzehrt hatte, setzte er das unterbrochene Gespräch fort. „Wo waren wir stehen geblieben?“, fragte er, ohne das Unbehagen seines Gastes zu bemerken. Dieser hatte Mühe, nicht ohnmächtig zu werden. Fast hätte er sein Gelübde gebrochen und um Essen gebeten; aber dann sammelte er seine letzten Kräfte, entschuldigte sich und taumelte hinaus. Als er nach einigen Minuten nicht zurückkam, ging der Geizige ans Fenster und sah überrascht, dass sich vor seinem Haus eine Menschenmenge versammelt hatte. „Was ist passiert?“, fragte er.

„Ein Bettler ist soeben auf der Straße gestorben“, sagte man ihm. „So wie er aussieht, ist er verhungert.“ Der Geizige war erschüttert. Erst jetzt erkannte er, wie grausam er gewesen war. Voller Reue schloss er sich in sein Zimmer ein und weinte. Schließlich schlief er vor Erschöpfung ein. In einem Traum erschien ihm der Bettler und sagte: „Da du an meinem Tod schuld bist, wurde beschlossen, dass du sofort sterben sollst. Aber ich bat für dich um Gnade, und mir wurde erlaubt, dir zu zeigen, wie du sühnen kannst.“ Der Geizige versprach, alles zu tun, was ihm aufgetragen wurde.

„Morgen musst du deiner Familie sagen, dass du ein Jahr auf Geschäftsreise gehst. Sobald du die Stadt verlassen hast, musst du dein Aussehen verändern, Lumpen anziehen und in deine eigene Studienhalle zurückkehren. Dort musst du ein Jahr bleiben und die Tora studieren, beten und Tschuwa (Reue) für deine Missetaten üben. Wenn du hungrig bist, darfst du nur deine Familie um Essen bitten – aber sie darf nicht erfahren, wer du bist.“ Der Geizige war dankbar für die Ermahnung und befolgte die Anweisungen genau.

Auf der anderen Seite des Zaunes ist alles anders. Als der Geizige an die Tür der Villa klopfte und um ein Stück Brot bat, schickte man ihn weg. Er klopft erneut und wurde geschlagen und beschimpft. Erst als er drohte, das Anwesen nicht zu verlassen, gaben sie nach und reichten ihm einige Brotkrumen. Er freute sich über diese magere Kost wie über einen großen Schatz, und zwei Tage später kehrte er zurück. Nach und nach betrachtete die Familie ihn als harmlosen Spinner. Die Kinder freuten sich auf seine Besuche, denn sie zupften ihn am Bart und gossen ihm Wasser über den Kopf. Der Geizige erduldete diese entwürdigende Behandlung stumm. Er wusste, dass er für das Verhalten seiner Kinder verantwortlich war.

Am Ende des Jahres zog der ehemalige Geizkragen wieder die Kleider an, die er bei seiner Abreise getragen hatte, und kehrte nach Hause zurück. Sofort gab er ein Fest für alle wichtigen Leute der Stadt und lud auch alle Armen dazu ein. In aller Öffentlichkeit erzählte er, was ihm geschehen war, und verkündete mit Tränen in den Augen, dass sein Haus künftig jedem offen stehen werde. Jeden Tag werde er allen zu Essen geben, die an seine Tür klopften.

In dieser Nacht erschien ihm der Bettler erneut im Traum, doch diesmal lächelte er. „Du darfst dich glücklich schätzen“, sagte er, „denn du hast aufrichtig bereut. Und dadurch hast du auch meiner Seele Ruhe und Frieden gebracht.“