(Auszüge aus einem Briefe des Lubawitscher Rebben an einen Korrespondenten:)

In diesen Wochen sind die letzten Sidrot (Abschnitte) der Tora daran, vorgelesen zu werden. Zu diesem Zeitpunkt ist es angebracht, den rabbinischen Ausspruch zu überdenken: "Die Tora redet in der Sprache der Menschen" (Talmud Brachot 31b). Manche wollen diesen Satz in dem Sinne verstehen, dass jede individuelle Gruppe unter den Juden in der ihr eigenen Sprache und Terminologie angesprochen werden sollte. Jeder Gemeinde und Gemeinschaft – so geben sie vor – sollte eine Philosophie der Tora präsentiert werden, die ihren spezifischen Ansichten angepasst ist. Das ist jedoch eine glatte Verdrehung. Vielmehr bezieht sich das Prinzip "die Tora redet in der Sprache der Menschen" nur auf die "Sprache", das heißt: die Ausdrucksweise; der Inhalt aber bleibt unangetastet.

Die Tora wird "Torat Emet" genannt, die Tora der Wahrheit, weil sie ewig gültig, unveränderlich ist. Wenn die Wahrheit durch Kompromisse ab – oder umgeändert wird – in welchem Maße dies auch immer geschehe –, dann hört sie auf, die Wahrheit zu sein. Denn Wahrheit bleibt konstant, für jedermann und für alle Zeiten. Wenn man akzeptiert, dass die von G-tt gegeben worden ist, dann kann man nicht sagen, dass "die Zeiten sich geändert haben" und die Tora in ihrer Originalform nicht mehr gültig sei. Dies käme der Behauptung gleich, der Schöpfer und Herr der Welt habe nicht vorausgesehen, dass ein 20. Jahrhundert kommen würde!

Im 19. Jahrhundert herrschte unter den Wissenschaftlern die Ansicht vor, der menschliche Verstand sei unfehlbar und Wissenschaften wie Physik, Chemie und angewandte Mathematik seien absolute Wahrheiten – nicht bloß erprobte Theorien, sondern absolute Tatsachen. Ein neuer Götzenkult kam damit auf, nicht ein Kult von Holz und Steinen sondern die Anbetung der Wissenschaft als solcher. Im 20. Jahrhundert jedoch, und insbesondere in den letzten Jahrzehnten, hat sich das ganze Bild der Wissenschaft geändert. Die Hypothese der Unerschütterlichkeit wissenschaftlicher Lehrsätze, der Begriff des Absolutismus in der Wissenschaft schlechthin: diese sind revidiert worden. Heute wird an der gegenteiligen Meinung festgehalten, dem sogenannten "Prinzip des lndeterminismus". Nichts in der Wissenschaft gilt mehr als sicher; alles ist nur noch relativ oder wahrscheinlich. Wissenschaftliche Neuentdeckungen werden heute mit erheblichen Einschränkungen vorgetragen; ihre Gültigkeit wird als beschränkt oder vorläufig angesehen, in der Erwartung, dass sie eines Tages einer mehr vorgeschrittenen Theorie weichen werden.

Nachdem wir in diesem Klima wissenschaftlicher Ungewissheiten leben, haben wir keinerlei Grund zu dem Versuche, die Unsicherheiten wissenschaftlicher Erkenntnisse (die die Wissenschaft selbst als nur "wahrscheinlich" hinstellt) für die ewige Wahrheit der Tora einzutauschen – eine Wahrheit, die nicht verwässert, abgeschwächt oder umgeändert werden kann.