Dieser Schabbat trägt die Bezeichnung "Schabbat Schuwa", d. h. "Schabbat der Rückkehr"; er ist der Höhepunkt der "Zehn Tage der Rückkehr" zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur. "Mit diesem Ausdruck von Rückkehr" ist der jüdische Begriff von "Tschuwa" umschrieben – eine ehrliche und ernste Selbstüberprüfung, zusammen mit ehrlicher Reue für früher Verfehlungen und dem ehrlichen Entschluss zu künftiger Besserung.
Während dieser Zeitspanne von "Tschuwa" macht jeder eine "Bilanz" des verflossenen Jahres, und diese zeigt ihm an, was er sich für das soeben begonnene Jahr vorzunehmen hat. Damit nun diese "Bilanzaufstellung" und die darauf basierenden Entschlüsse so weit wie möglich dem wahren Sachverhalt entsprechen, muss man sich davor hüten, seine Tugenden und das persönlich Erzielte zu hoch einzuschätzen. Doch sollte man, ebenso seine Fehler und Schwächen nicht übertreiben; denn Niedergeschlagenheit oder gar – G-tt behüte – ein gänzliches Verzagen stellen eins der schwersten Hindernisse auf dem Wege zur Besserung dar.
Trotzdem kann, selbst ohne eine solche Übertreibung, aus der "Bilanz" möglicherweise hervorgehen, dass die "Passiva-Seite" beträchtlich ist, vielleicht sogar größer als die "Aktiva-Seite". Aber auch in diesem Falle ist Verzweiflung nicht am Platze, und zwar aus zwei Gründen:
Erstens muss jede ehrliche Selbstüberprüfung dazu führen, dass man wirkliche Reue empfindet und den festen Entschluss fasst, sich zum Guten zu ändern: keineswegs darf sie zum Verzagen führen. Zweitens hat das allgemeine Verhalten eines jeden Menschen immer seine ermutigende Seite, die zu diesem Zeitpunkt unbedingt im Auge behalten werden muss. Sie besteht darin, dass jede positive und gute Handlung (positiv und gut, wohlgemerkt, nach den Definitionen der Tora, den Satzungen des Lebens) unzerstörbar und von Dauer ist, weil sie mit dem ewigen G-ttlichen "Funken" im Menschen, der Neschama, verbunden ist und davon herrührt.
Auf der anderen Seite dagegen ist jede negative und niedrige Tat (die von der "Nefesch Habahamit" herrührt, dem tierischen Instinkt und bösen Trieb im Menschen, etwas in seinem Wesen auf jeden Fall Begrenztem und Vergänglichem) auch selbst vorübergehend und vergänglich; sie kann, und muss, berichtigt werden, sie kann durch ehrliche und hinreichende Reue völlig ausgelöscht werden.
Wenn man dies jederzeit bedenkt, dann kann ein jeder, unbeschadet dessen, wie die "Bilanz" ausgefallen war, Ermutigung und neue Hoffnung für die Zukunft schöpfen. Denn das Judentum – das ist ganz klar – ist kein System, das auf rein mechanischen "Gegengewichten" beruht, in dem jede gute Tat durch eine schlechte negativiert, "abgewogen" wird. Sollte zum Beispiel jemand zu dem Ergebnis kommen, dass er im verflossenen Jahre ein "Guthaben" von zwei guten Handlungen hat, und dass demgegenüber 100 schlechte auf der "Debet-Seite" stehen, so darf er daraus doch nicht schließen, das Jahr stelle nun einen glatten "Verlust" dar. Denn durch "Tschuwa" wird das vergängliche Böse getilgt, während die guten Taten bestehen bleiben und mit ihnen das Licht und die Zuträglichkeit, die diese in sein Leben gebracht haben.
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