Der Monat Elul, der zu den "ehrfurchtgebietenden Tagen" von Rosch Haschana und Jom Kipur hinüberleitet, steht bevor. Eine der Pflichten, die uns für jene Tage besonders ans Herz gelegt sind, ist – neben Tschuwa und Tefilla – das Geben von Zedaka. Was ist Zedaka?
Im Allgemeinen wird dieses Wort mit "Wohltätigkeit" übersetzt. Eine richtigere und passendere Übersetzung des hebräischen Ausdruckes wäre jedoch "Gerechtigkeit". Diesen beiden Begriffen wohnt eine unterschiedliche Bedeutung inne. "Wohltätigkeit" besagt, dass der Gebende ein großzügiger Mensch ist. Der Betreffende legt Hilfsbereitschaft an den Tag, auch wenn er dem Empfänger nichts schuldet und ihm zu nichts verpflichtet ist. "Gerechtigkeit" dagegen bedeutet, dass man geben muss. Nachdem die Tora sich dieses Wortes Zedaka (also: Gerechtigkeit) bedient, lehrt sie damit sofort, dass anderen zu helfen unsere Pflicht und Schuldigkeit ist.
Warum aber müssen wir überhaupt helfen? Warum wird von uns verlangt, dass wir jemanden beistehen, den wir möglicherweise nicht einmal kennen?
Die Antwort auf diese Frage erhellt aus einem elementaren Grundsatz des Judentums: Wenn immer wir Wohltaten erweisen, dann gehört das Geld, das wir geben, eigentlich gar nicht uns. Zwar könnte man wohl argumentieren, wir hätten es selbst verdient. Dennoch sollen wir uns nicht einbilden, dass es, wie es im vorigen Wochenabschnitt Ekew heißt (Deut. 8, 17), "meine Kraft und die Stärke meiner Hand" war, "die mir dieses Vermögen eingebracht hat".
Uns allen sind wahrscheinlich Fälle bekannt, wo Menschen, die ursprünglich nur geringe oder fast gar keine Chancen hatten, trotzdem zu Reichtum gekommen sind, während andere, denen an sich jede Tür offen stand, um zu großen Erfolg zu gelangen, versagt und es zu nichts gebracht haben. Wenn also G-tt uns mit Wohlstand segnet, dann müssen wir klar erkennen, dass Er uns den Reichtum für einen ganz bestimmten Zweck gegeben hat: Er hat uns zu seinem Agenten gemacht und wir müssen seinem Auftrage entsprechend handeln, dadurch dass wir die Geldsummen benutzen, um anderen zu helfen und auch der ganzen Welt ringsum Nutzen zu bringen. Wenn wir jedoch dieses Vorhaben außer Acht lassen; dann sind wir nur damit beschäftigt, G-ttes Absicht zu vereiteln. Andererseits, wenn wir seinen Plan ausführen, dann erst erweisen wir uns dieser Gunst G-ttes wirklich würdig, und dann verdienen wir es auch in der Zukunft, dass uns das viele Geld weiterhin anvertraut bleibt.
Der Talmud (Sota 8b) erklärt, dass Belohnung "Maß für Maß" zuteil wird. G-tt steht unter keiner Verpflichtung, uns irgendetwas zu geben. Was er uns schenkt, beruht auf wahrhafter Großmütigkeit. "Maß für Maß" besagt genau, dass wir die gleiche Eigenschaft unter Beweis stellen müssen; wir müssen ebenso großmütig in unserem Geben an andere sein.
Ein weiterer Gesichtspunkt ist dieser: Wenn immer wir Zedaka geben, heißt dies praktisch, dass wir bei der Beantwortung der Frage mithelfen, zu welchem Zweck es Geld und Reichtum in der Welt gibt. Unsere Weisen haben gelehrt (Schmot Rabba 35, 1): "Warum wurde das Gold geschaffen? Für die Errichtung des Heiligtums und des Tempels." Die Welt als solche wäre, ihrem Wesen nach, nicht würdig, Gold zu besitzen. Aber sie braucht ein Heiligtum, eine Wohnstätte für G-ttes Allgegenwart. Diese Wohnstätte musste in einer Weise konstruiert sein, dass sie völlig unterschiedlich von allen anderen – durchschnittlichen und alltäglichen – Bauten und Gebilden der Welt war und weit über diese hinausragte. Und eben dafür wurde das Gold geschaffen.
Dasselbe Prinzip lässt sich auf jeden anderen Besitz und Reichtum anwenden. Er ist dem Menschen gegeben worden, damit er ihn nutze, um die ganze Welt zu G-ttes Wohnstätte zu machen. Nachdem wir Willensfreiheit besitzen, können wir an sich entscheiden, für welche Zwecke wir unser Geld verwenden wollen. Was geschieht indessen, wenn wir es für andere, unwürdige Zwecke vergeuden? Das Buch Kohelet gibt die Antwort (5, 12): "Ein schlimmes Über habe ich gesehen … Reichtum, den sein Besitzer für sich behalten hat, zu seinem Unheil." Dieser Reichtum ist nicht dafür da, dass man ihn für sich selbst behält. G-tt gab ihn vielmehr – wie wir ausgeführt haben –, damit er positiv und richtig "angelegt" wird.
Wenn jemand Zedaka gibt, dann "gibt" er nicht nur, sondern er "empfängt" auch. In der Tat erklären unsere Weisen (Wajikra Rabba 34, 8), dass der Arme dem Spender noch mehr gibt, als er selbst von ihm erhält. Denn in Wirklichkeit hat der Geber einen doppelten Nutzen: Erstens zieht er mit seiner Tat G-ttes Segen zu sich heran; zweitens läutert und verbessert er so seinen Charakter, seine ganze Persönlichkeit.
Diese Auswirkungen hängen nicht allein von der gespendeten Summe ab, sondern gleichfalls von der Häufigkeit des Gebens. Fast jeden einzelnen Tag geben wir Geld für unsere persönlichen Erfordernisse und Bedürfnisse aus. Ebenso müssen wir aber bereit sein, täglich unsere Beiträge für die Belange zu leisten, die G-tt für wesentlich erachtet. Einer wohltätigen Stiftung mag es, an sich, gleichgültig sein, ob sie eine große Geldsumme auf einmal oder dieselbe Summe in kleineren Raten bekommt. Für den Geber jedoch besteht ein bedeutsamer Unterschied. Denn wir selbst sind dauernd von G-ttes großzügiger Hilfe in vielen Dingen unseres täglichen Lebens abhängig. Dadurch nun, dass wir selbst jeden Tag Zedaka geben, können wir uns der Fortdauer Seiner reichlichen Segnungen versichern.
Hinzu kommt, dass wir jedes Mal, wenn wir Zedaka geben, einen weiteren und tieferen Einfluss auf unsere Charakterentwicklung ausüben. Wir alle sind nicht frei von selbstsüchtigen Neigungen. Mit wohltätigen Gaben können wir uns dazu erziehen, über unsere niedrigen Triebe hinauszuwachsen, weil wir damit doch ständig mehr Feingefühl und mehr Altruismus entwickeln. Je öfter wir spenden, desto stärker prägt sich dies auf unseren Charakter ein.
Die Mischna ("Sprüche der Väter" 3, 15 – 3, 19) lehrt: "Alles ist der Menge des Tuns gemäß". Maimonides kommentiert dazu, ganz im Einklang mit unserem soeben aufgestellten Prinzip: Wenn wir eine Summe in der Weise von mehreren kleinen Raten geben, "läutern wir unsere Seele durch diese mehrfache Taten".
Diese Ideen sind es dann, die ein neues Licht auf eine bekannte und wichtige Einrichtung des jüdischen Heims werfen. In jedem jüdischen Heim gibt es eine Sammelbüchse für wohltätige Zwecke (oder es sollte sie geben). Häufig jedoch steht diese Büchse ziemlich versteckt in einer Ecke, oder sie liegt in einer Schublade. Sobald uns aber die große Bedeutung der Mizwa von Zedaka völlig klar wird, kommen wir dazu, ganz anders zu handeln: Wir lassen die Büchse an prominenter Stelle stehen. Und dadurch, dass sie dauernd offen zu Schau steht, bleiben wir uns auch selbst der Mizwa stets bewusst – sogar dann, wenn wir Geld gar nicht anfassen können: An Schabbat und Festtagen, zum Beispiel, wenn wir Zedaka (in dieser Form) überhaupt nicht geben können, erinnern uns dennoch diese Sammelbüchse, wie sie sichtbar und offen dasteht, an ihre zentrale Rolle im jüdischen Leben. Auch wenn ein Gast ein Haus betritt und alsbald eine solche Büchse sieht, leuchtet ihm schnell ein, dass diese Haus von Gefühlen der Sorge für andere beseelt ist.
Aus all diesen Gründen ist es passend, der Sammelbüchse eine zentrale Stelle im jüdischen Heim einzuräumen. Sie ist, tatsächlich, ein so wichtiger Bestandteil, dass sie ein sehr angebrachtes Hochzeitsgeschenk für ein neuvermähltes Paar ist!
Aus ähnlichen Gründen ist Zedaka ein sehr wichtiger Faktor in der Erziehung der Kinder. Kinder neigen bekanntlich leicht zu Selbstsucht. Wenn man aber einem Kinde ein paar Münzen in die Hand gibt, damit es diese für allein wohltätige Zwecke verwenden kann, dann macht man es für die Belange anderer mehr zugänglich. Das Elternhaus und die Schule sollten in dieser Hinsciht eng zusammenarbeiten.
Es versteht sich von selbst, dass die Mizwa von Zedaka auch für die Frauen volle Gültigkeit besitzt. Heute kommt es immerhin in verstärktem Ausmaß vor, dass Frauen einen erheblichen Beitrag zu den Haushalts-Finanzen leisten. Folglich ist es auch nur richtig, dass sie dementsprechend Zedaka geben. Die G-ttliche Belohnung dafür wird ihnen im gleichen Grade wie den Männern erwachsen.
Als ein weiterer Gesichtspunkt ist wichtig, dass Zedaka nicht nur – wie nun klar sein dürfte – von jeder einzelnen Person gegeben werden muss, sonder dass diese Pflicht für alle möglichen wirtschaftlichen Situationen gilt. Sogar wenn die allgemeine Wirtschaftslage schlecht ist, müssen wohltätige Beiträge weiterhin geleistet werden. Ein deutliches Beispiel für eine derartige Situation liefert das Verhalten unserer Vorfahren in Ägypten. Wie der Talmud (Joma 28b) feststellt, unterhielten unsere Vorfahren Jeschiwot (Tora-Akademien) während der ganzen Zeit der ägyptischen Versklavung. Selbst als Pharao sich weigerte, ihnen weiterhin Stroh für die Herstellung von Ziegelsteinen zur Verfügung zu stellen, auch da hielten sie weiter ihre Tora-Schulen aufrecht.
Anderswo erklärt der Talmud (Baba Batra 9a), dass die Erfüllung der Mizwa von Zedaka gleichwertig der Erfüllung aller anderen Gebote ist. Zweck und Ziel von Tora und Mizwot ist, dass durch sie die Person sowie ihre gesamte Umgebung verbessert und geläutert wird. Bei keinem anderen Gebot aber ist dieses Prinzip von Läuterung so klar erkennbar wie bei Zedaka. Wenn jemand eine wohltätige Spende macht, so benutzt er dafür doch Geld, mit dem er andernfalls die täglichen Lebensaufgaben hätte bestreiten können. Hier also bringt er zum Ausdruck, dass er erfolgreich gegen selbstsüchtige Neigungen angefochten hat. Besonders ist dies der Fall, wenn dieses Geld in harter Arbeit und mit schwerer Mühen verdient worden ist. Daher: Wenn jemand auf diese Weise von den Früchten seiner Mühe abgibt, dann erhört und läutert er damit all die Energien, die er einsetzen musste, um dieses Geld zu verdienen.
Zedaka, als eine Mizwa, die rein materielle Dinge betrifft und diese dann verfeinert, ist eine der Mizwot, deren "Früchte schon in dieser Welt gegessen werden". Das heißt, dass man ihre Auswirkung in der physischen Welt beobachten kann. Wie unsere Weisen erklären (Midrasch Tanchuma, Mischpatim 15): Wenn man einem anderen physische Hilfe leistet (also wenn man, zum Beispiel, einem Hungrigen zu essen gibt), dann erwächst daraus, dass der Geber selbst nie in eine ähnliche Notlage gerät. Die Auswirkungen erstrecken sich sogar noch viel weiter; denn der Talmud (Baba Batra 10a) legt fest, dass man durch das Geben von Zedaka das Kommen des Maschiach beschleunigt.
Nun haben manche Leute gerade bei dieser Mizwa gegen einen inneren Widerstand anzukämpfen. Sie wissen sehr wohl, dass sie geben sollten, aber manchmal können sie diesen Gedanken nicht loswerden: "Ich habe für mein Geld schwer gearbeitet – warum sollte ich es jetzt hergeben? Wenn ein anderer Geld braucht, dann sollte er doch dafür arbeiten, so wie ich es getan habe." Andere dagegen, insbesondere die Chassidim, haben eine völlig andere Einstellung allem materiellen Besitz gegenüber.
Ältere Chassidim pflegten des öfteren zu sagen: "Das Stück Brot, das ich habe, gehört sowohl Dir wie mir." Es sollte nicht übersehen werden, dass sie das Wort "Dir" vor dem Worte "mir" aussprachen, woraus folgt, dass für sie die Pflicht, ihr Brot mit anderen zu teilen, noch Vorrang vor ihren eigenen Bedürfnissen hatte. Eine solche Einstellung ist absolut selbstlos.
Die Tora legt fest, dass man Ma’asser für Zedaka zu geben hat; das ist ein Zehntel des Einkommens. Der Selbstlose jedoch fühlt, dass er einen größeren Beitrag leisten sollte. Da denn legt der Talmud (Ketuwot 67a) auch ein Maximum fest: nicht mehr als ein Fünftel. Selbst in einem Falle, wo man für das Geben keinerlei Dank oder Anerkennung erntet, muss man geben – mit innerer Freude und bereitwillig. Der Talmud lobt ganz besonders diejenigen, die "im stillen" spenden, wo also der Name des Spenders strikt geheim gehalten wird.
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