Rabbi Schneur Salman von Liadi, der Begründer der ChaBaD-Lubawitsch-Bewegung, und sein Sohn und Nachfolger, Rabbi Dov Ber, wohnten zusammen in einem Hause, Rabbi Schneur Salman im zweiten Stock und Rabbi Dov Ber im ersten. Letzterer war bekannt für seine sehr intensive Konzentrationsfähigkeit. Eines Tages, als Rabbi Dov Ber in sein Tora-Studium vertieft war, fiel sein kleiner Sohn aus der Wiege und fing an zu weinen. Obwohl das Baby laut schrie, hörte sein Vater dies nicht.
Schließlich hörte es Rabbi Schneur Salman im zweiten Stock, obwohl auch er sehr in sein Studium vertieft war. Er eilte die Treppe hinunter, nahm das Kind in seine Arme und beruhigte es. Danach wandte er sich seinem Sohne Dov Ber zu, der immer noch seinen Studien beschäftig war. Er hatte weder gesehen noch gehört, was vorgefallen war. Rabbi Schneur Salman rügte ihn; wie sehr man auch immer mit seinen Studien beschäftigt sei, so erklärte er ihm, sollte man dennoch zu allen Zeiten das Weinen eines Kindes hören können. Kein Thema sei so wichtig oder so kompliziert, dass dadurch diese Art von Aufnahmefähigkeit abgestumpft werden könnte.
Der frühere Lubawitscher Rebbe, Rabbi Josef Jizchak Schneersohn sel. A., pflegte diese Geschichte nachzuerzählen und die daraus zu entnehmende Lehre ausführlich und eingehend darzustellen. Dabei legte er große Betonung auf die Eigenschaft von Ahawat Jisrael (die Liebe eines Juden zum anderen), die uns gegenseitig einen muss. Uns müssen stets die Bedürfnisse des anderen Juden bewusst sein. Wenn ein Kind weint, dann fehlt ihm etwas oder es ruft um Hilfe; und wir müssen sofort darauf reagieren. Unbeschadet unserer Beschäftigung mit anderen Dingen, und sei diese noch so intensiv, selbst wenn wir in Tora-Studium oder Gebet vertieft sind, müssen wir bereit sein, dies zu unterbrechen und den Nöten eines jüdischen Kindes unsere ganze Aufmerksamkeit schenken. Wir müssen gewillt sein, alles andere beiseite zustellen, sowohl unsere materielle wie unsere spirituellen Interessen, und uns dem Kinde in seiner Not widmen.
Dieser Grundsatz gilt, was immer das Kind auch brauchen mag, ob in geistiger oder körperlicher Hinsicht. Ein Jude hat einen Körper und eine Seele; beide haben elementare Wünsche und Bedürfnisse. Ebenso wie die körperlichen Bedürfnisse nicht unbeachtet bleiben können, so heischen auch die seelischen nach ihrer Erfüllung. Wenn die Seele eines Juden nicht die Möglichkeit erhält, sich durch Tora und Mizwot mitzuteilen, dann wird sie eine große Not und Leere fühlen.
Heute sehen wir in Tausenden von Fällen, wie diese innere Not und Leere zum Ausdruck kommt. Junge Juden aus den verschiedensten Milieus und den unterschiedlichsten Lebenslagen fangen an zu suchen und ringen darum, den Weg zum Judentum zurückzufinden. Universitätsstudenten kommen plötzlich zu der Entscheidung, dass sie den Lebensstil der Tora völlig auf sich anwenden wollen. Halbwüchsige äußern den Wunsch, die Tora zu lernen und die Gebote auszuüben. Junge Eheleute, mit kleinen Kindern, haben ihre Häuser "auf den Kopf gestellt" und sie zu Tora-Heimen gemacht, Vorbilder einer jüdischen Lebensweise. All diese Menschen sind auf der Suche nach dem wahren Judentum – einem Judentum, das nicht verwässert ist, und das kompromisslos auf das tägliche Leben angewendet werden kann.
Wenn wir diese Nöte der Jugend sehen, wenn wir ihr "Weinen und Klagen" sehen, dann müssen wir sofort reagieren und bei der Hand sein. Wir müssen Klassen für Spezialunterricht eröffnen, wir müssen andere besondere Einrichtungen zur Verfügung stellen, die diesen Bedürfnissen Rechnung tragen. Diese Aufgabe muss Vorrang vor allen anderen Belangen haben, ob geistiger oder physischer Natur. Außerdem aber müssen wir noch einen Schritt weiter gehen, nämlich uns für diejenigen interessieren, die noch nicht "schreien", die sich der Notwendigkeit des "Schreiens" noch gar nicht bewusst sind. Auch diese stehen vielfach vor einer geistigen Leere; ihre Seelen sehnen sich nach Erfüllung, die sie nur in Tora und Mizwot finden können. Auch für sie müssen wir aufgeschlossen sein.
Wir müssen unsere Hände ausstrecken und jeden Juden zu erfassen suchen, unbeschadet seiner augenblicklichen Umstände und Verhältnisse, ob er sich seiner Sehnsucht bewusst ist oder nicht.
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