Im Urlaub stehe ich gerne früh auf und genieße den frischen Sommermorgen. Manchmal weckt mich das Plätschern des Regens, der sanft zu Boden fällt und die Luft kühlt. Ein andermal erwache ich bei hellem Sonnenschein, wenn das Gras mit glänzendem Tau bedeckt ist, der wie eine Million Sterne funkelt.

Beide Morgen sind nass, der eine vom Regen, der andere vom Tau; aber sie wecken verschiedene Gefühle. Der eine ist sanft und beruhigend, der andere fröhlich und stärkend. Der Unterschied wird meist der Sonne oder deren Fehlen zugeschrieben; doch die chassidischen Meister erblicken ihn in der Nässe, im Regen und Tau.

Vor seinem Tod verkündete Mosche sein Vermächtnis. Er sang ein Loblied, eine wunderschöne Ode: „Möge der Himmel lauschen, wenn ich rede, und möge die Erde meine Worte hören. Möge meine Lehre wie Regen fließen und meine Worte wie Tau tropfen.“1

Unter Bezug auf die zwei Metaphern Regen und Tau erklärt der Midrasch: Israel wollte, dass seine Inspiration wie Regen fließen möge. Aber G-tt erwiderte: „Nein, nicht wie Regen, sondern wie Tau.“ Israel wollte Regen, und G-tt wollte Tau. Was ist der Unterschied? Beide bestehen aus kondensiertem Wasserdampf, beide sind feucht, und beide werden auf dem Boden sichtbar.

Verschieden ist nur ihr Ursprung: Regen bildet sich, wenn Wasser auf der Erde verdampft und nach oben steigt, wo es kondensiert, Wolken bildet und als Regen niederfällt; Tau bildet sich hier auf der Erde, wenn die Temperatur fällt und die wärmeren Dämpfe in Kontakt mit kühleren Flächen kommen.

Der Regenzyklus beginnt mit einem Aufstieg; der Tauzyklus braucht ihn nicht.

Um zu verstehen, was dieser Unterschied bedeutet und warum er für den Gegensatz zwischen Mosches Wunsch und G-ttes Antwort so wichtig ist, müssen wir zuerst seine spirituelle Parallele begreifen.

Pendelnde Seelen

Seelen steigen wie Wasserdampf von der Erde zum Himmel. Sie pendeln hin und her zwischen den niederen spirituellen Ebenen, die G-tt ferner sind, und den höheren spirituellen Ebenen, die G-tt näher sind. Hin und her geworfen, beschäftigen wir uns öfter mit dem Körper als mit der Seele, mehr mit der Materie als mit der Form, mehr mit dem Physischen als mit dem Spirituellen.

Aber wie das Wasser auf dem Boden können wir nicht ewig zufrieden sein. Auch wir wollen irgendwann aufsteigen. Dann wenden wir uns G-tt zu und erinnern uns an unsere spirituelle Leere. Wir merken, dass wir in einer moralisch bankrotten Gesellschaft leben, wo Täuschung und Hochmut, Egoismus und Wut, totale Freizügigkeit und Korruption verbreitet sind. Wir sehnen uns nach einem bedeutsameren Leben. Jetzt verliert unsere materielle Existenz ihren Reiz. Unsere Begeisterung über sie verdampft, und wir steigen wie Wasserdampf über dem Meer hinauf auf eine spirituellere Ebene.

Von dort aus schauen wir angewidert zurück und bilden Wolken aus Reue in der höheren Atmosphäre. Diese Wolken verdunkeln das Licht und verwandeln unsere Freude in Scham. Aber die Wolken dürfen nicht dauerhaft sein. In unserem Herzen müssen sich Perlen der Inspiration formen, die als Wolkenbruch der G-ttesliebe niederfallen und uns ermuntern, die Torah zu studieren und ihre Mizwot zu befolgen.

Spontane Wünsche, wohlüberlegte Antwort

Mosche kannte den Wankelmut der Menschen und wusste, dass nur wenige die gleiche Hingabe beibehalten können. Darum bat er G-tt, unsere Inspiration wie Regen fließen zu lassen, wie Regentropfen, die sich oben aus Wasserdampf bilden. Er bat G-tt, unsere Reue auf der niederen Ebene anzunehmen, damit wir auf eine höhere Ebene steigen und die Liebe zu G-tt regnen lassen können.

Aber G-tt erwiderte, die Inspiration werde wie Tau tropfen.

Tau bildet sich unten auf dem Boden und braucht keinen Wasserdampf, um aufzusteigen. G-tt wollte sagen, er werde unsere Seelen „da unten“ inspirieren, unabhängig von unseren Entscheidungen. Wenn G-tt sieht, dass wir vom Weg der Tora abweichen, wartet er nicht darauf, dass unser Wasserdampf aufsteigt oder dass wir bereuen. Er pflanzt eine Perle der Inspiration in unsere Seele und weckt in uns die Sehnsucht nach einer Mizwa.

Ohne zu wissen, warum, spüren wir manchmal den Wunsch, G-tt näher zu sein. Plötzlich wollen wir an einem G-ttesdienst in einer Synagoge oder an einem Tora-Unterricht teilnehmen, Schabbat-Kerzen anzünden oder etwas spenden. Diese Wünsche stellen sich spontan ein, sie werden nicht von Dingen ausgelöst, die wir sehen oder hören. Sie sind wie Tau: Inspirationen, die G-tt in uns weckt, ohne einen Aufstieg.

G-tt flößt uns den Wunsch ein, überlässt es aber uns, ihn in die Tat umzusetzen. Wir haben zwei Möglichkeiten: Wir können uns auf diese eine Inspiration beschränken oder sie nutzen, um die Sehnsucht nach weiteren Mizwot zu wecken.

Mit anderen Worten, wir können entweder Regen machen oder auf den nächsten Tau warten.

Entscheiden wir uns für den Regen!2