Am siebenten Tag des Monats Cheschwan, 15 Tage nach dem Abschluss des Festes [von Sukkot], beginnt man für Regen zu beten. Dies geschieht, damit es dem letzten Juden ermöglicht wird, den Fluss Euphrat zu erreichen.

Talmud, Taanit 10a

In vielen chassidischen Gemeinden war es Brauch, dass am Ende der „Tischrei-Feiertagssaison“ der Gabbai der Synagoge auf dem Podium erscheint, auf den Tisch schlägt und, Bereschit 32:2 zitierend, verkünden wird: „Und Jakob ging auf diesem Weg!“

Als der heilige Tempel in Jerusalem stand, war das Fest von Sukkot (15.-21. Tischrei) eine Zeit des Wallfahrens für alle Juden, bei der alle kamen um den Tempel, den Sitz G-ttes manifester Gegenwart in der physischen Welt, zu sehen und an ihm gesehen zu werden. In den Tagen nach dem Fest würden Karawanen aus der heiligen Stadt strömen und einen langen (für einige physisch, spirituell für alle) Weg zurückgehen, um zu pflügen und ihre Reben zu schneiden, zurück zu ihrem Feld, ihrem Weinberg und ihrem Obstgarten. Am Ende der ersten Woche des Monats Cheschwan fand sich das Volk Israel wieder bei seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum.

Auch heute markiert der Cheschwan das Ende einer Zeit des spirituellen Fokussierens und eine Rückkehr zu den Belangen des materiellen Lebens. Während des Monats Elul und den hohen Feiertagen, die den Monat Tischrei eröffnen, beschäftigen wir uns mit Umkehr, Gebet und Zedaka, versuchen unsere Beziehung zu unserem Schöpfer und zu unseren Nächsten zu verbessern. Unmittelbar darauf folgt Sukkot, das Fest der Einheit und der Freude, und Simchat Tora, wenn wir unsere besondere Beziehung mit dem Allmächtigen feiern, indem wir uns mit der Tora freuen.

Cheschwan ist der Monat, in welchem wir, nach vielen Wochen, zu unseren alltäglichen Belangen zurückkehren, nachdem das Spirituelle an erster Stelle unseres Lebens stand. In der Tat ist es das einzige charakteristische Merkmal dieses Monats, dass er der einzige Monat im jüdischen Kalender ist, der nicht ein einziges Fest oder besonderen Tag besitzt.

Bei genauer Betrachtung des Monats Cheschwan stellen wir allerdings fest, dass dieser das eigentliche Ziel des Lebens auf der Erde repräsentiert. Die Juden leben nicht allein für die spirituellen Erfahrungen der Feste und tolerieren lediglich die dazwischen liegenden Tage und Wochen; im Gegenteil – die heiligen Tage, welche über unser Jahr verteilt sind, existieren wegen der – so genannten – normalen Tage unseres Lebens.

Hoch und Niedrig

G-tt wünschte eine Wohnsitz in den niederen Welten. Mit diesen Worten beschreiben unsere Weisen das g-ttliche Ziel der Schöpfung.

Was sind die niederen Welten? Allgemein sieht man das Spirituelle als höher und das Materielle als niedriger an, und die physische Welt als die niedrigste von G-ttes Schöpfungen. Aber ist diese Darstellung wirklich gerechtfertigt? G-tt erschuf nicht nur alle spirituellen und physischen Wesen, sondern auch die spirituellen und physischen Konzepte. Er geht über beide Reiche gleichermaßen hinaus und ist gleichzeitig in beiden präsent, denn Seine allumfassende Wahrheit kennt keine Grenze oder Kategorisierung. Warum sollte also das Spirituelle als höher angesehen werden als das Physische?

Um zu verstehen, warum das Physische tatsächlich niedriger steht als das Spirituelle, müssen wir zuerst den Begriff Olam, das hebräische Wort für Welt, betrachten. Olam steht für das Verbergen. Eine Welt ist ein Rahmen oder Kontext, innerhalb dessen Dinge existieren; und der dem Zwecke dient, dass etwas existiert. Zuerst muss das Verbergen stattfinden.

Der Grund dafür ist, dass es das grundlegende (und einzige) Gesetz des Lebens ist, dass es nichts neben Ihm gibt – dass Er der Einzige ist und dass nichts außerhalb Seiner Wirklichkeit existiert. Damit etwas anderes existieren kann, muss diese Wahrheit verschleiert und verdunkelt werden.

G-tt erschuf beide, die höheren spirituellen Geschöpfe und die niederen physischen. Der Unterschied zwischen ihnen liegt nicht in der grundsätzlichen Nähe oder Entfernung von G-tt, sondern im Grad des Verbergens ihrer Welten. Ein geringeres Verbergen mag Dingen die Möglichkeit geben zu existieren, aber diese Existenz wird sich ihres Schöpfers bewusst und ihm gegenüber zutiefst unterwürfig sein, und die totale Abhängigkeit von ihm bestätigen. Diesbezüglich gibt es viele Abstufungen und Grade – je größer die Verheimlichung in der gegebenen Welt, umso mehr wird die Schöpfung von der Welt besitzen.

In diesem Sinn ist die physische Welt die niedrigste aller Welten. Das Verbergen G-ttes in der physischen Welt ist so groß, dass die Selbstsucht ihrer Einwohner absolut ist: seiner Natur nach strebt das physische Wesen nur nach seinem eigenen Erhalt und seinem persönlichen Fortschritt, hinsichtlich seiner Existenz, als der Achse, um die sich alles dreht. Die physische Welt trübt nicht nur ihre g-ttliche Quelle, sondern verdunkelt sie gänzlich, auch ermöglicht sie es der Schöpfung, dass sie ihren Ursprung und ihr Wesen verleugnet.

Der Wohnsitz

Es ist die niedrigste der Welten, die im Fokus der g-ttlichen Schöpfung steht. G-tt wollte eine Umgebung erschaffen, in der Seine Realität fast ganz verborgen ist, eine Umgebung die so fern von ihrer Quelle ist, dass sie sogar böse Elemente enthalten kann, die seiner alles durchdringenden Wahrheit entgegenstehen und sie sogar verleugnen können, trotz der Tatsache, dass ihre eigene Existenz von ihm abhängig ist. Und in diesem niederen Reich verlangte es Ihn danach, dass wir Ihm einen Wohnsitz errichten: ein Platz in welchem Er zu Hause ist, eine Umgebung wo Er offen und ungehemmt Er selbst sein kann.

So erschuf er uns als materielle Wesen, deren Überlebensforderungen mit der physischen Realität interagieren. Und Er gab uns die Fähigkeit unsere materiellen Leben so auszurichten, dass sie einem g-ttlichen Ideal dienen. Jedes Mal, wenn wir die Ausbeute unseres Felds oder Geschäfts dazu benutzen, um den Armen zu helfen, bezwingen wir das Egozentrische, welches das Wesen der materiellen Welt bestimmt. Wir bezwingen das „ich bin“ des Physischen und verwandeln dadurch sein Wesen: statt der verdunkelten g-ttlichen Realität in dieser Welt, wird sie nun zu einem Heim für Ihn – einer Umgebung, die wirklich Ausdruck darüber gibt und offenbart, wie alldurchdringend Seine Wirklichkeit ist.

Folglich sind die physischen Aspekte unserer Existenz das Hauptwerkzeug für die Erreichung unseres Lebenszieles. Das Spirituelle in uns und in der Schöpfung wurde nur geschaffen, um uns in der Realisierung dieses Zieles zu helfen. Jemand der sich nicht auf die materielle Welt einlässt und allein den spirituellen und transzendenten Bestrebungen folgt, weicht von der eigentlichen Mission seines Lebens ab.

Dasselbe gilt für die spirituellen und materiellen Bereiche der Zeit. Die Feiertage des Tischrei – wie alle speziellen Daten und Ereignisse des jüdischen Kalenders – geschehen zu Gunsten der Cheschwan-Tage unseres Lebens. Diese spirituellen Tage existieren, um uns Stärke und Richtung zu geben, so dass wir die gewöhnlichen Tage des Jahres optimal nutzen können – die Tage, in denen wir mit der physischen Realität interagieren, jeder in seinem Beruf und an seinem Platz.

Der Treck zum Euphrat

Es scheint ein Bruch in der Normalität des Cheschwan zu sein: Am siebenten Tag des Cheschwan, sagt der Talmud, fünfzehn Tage nach dem Ende des Festes [von Sukkot], beginnt man für Regen zu beten. Dies geschieht, damit es dem letzten Juden ermöglicht wird, den Fluss Euphrat zu erreichen. (An diesem Tag leben Juden im Land Israel und fügen das Gebet für Regen am 7. Cheschwan zu ihren täglichen Gebeten hinzu.)

Aber bei näherer Betrachtung unterstreicht dieser Tag die Vorrangstellung des Gewöhnlichen im Leben des Juden.

Für die Dauer des Fests von Sukkot ließ der Jude sein Feld und all die diesbezüglichen Sorgen hinter sich und kam zum heiligen Tempel in Jerusalem, wo die Wunder die Norm waren und die g-ttliche Gegenwart offen wahrgenommen wurde. Aber dann begann seine Reise zurück nach Hause, zu seinem Anwesen und zu seiner Mission. Für einige war es eine Reise von mehreren Stunden, für andere von mehreren Tagen und für den letzten Juden, der sein Land in dem entferntesten Grenzgebiet des Landes Israel bebaute, war es eine fünfzehntägige Reise an den Euphrat. Am siebenten des Monats Cheschwan, als jeder letzte Jude nach Hause auf sein eigenes Land kam, begann die ganze Gemeinschaft von Israel für Regen zu beten und G-tt anzuflehen, ihre Anstrengungen, die Erde zu bearbeiten, und die Welt in einen Wohnsitz für Seine Gegenwart zu verwandeln, zu segnen.

Bei einer tiefer gehenden Betrachtung ist der letzte Jude der entfernteste Jude im spirituellen Sinn – derjenige, dessen Beruf der Materiellste von allen ist. Doch alle Juden, einschließlich jener, deren Missionen im Leben sie sich nur einen Steinwurf von Jerusalem entfernt niederlassen ließ, können nicht für Regen beten, bis der einfachste der Pilger sein Heim erreicht hat. Ohne diesen letzten Juden ist ihre Arbeit unvollendet; es ist er, mehr als jeder andere, der das darstellt, worum es im Leben geht.