In der heutigen Sidra beginnt die Tora mit Moses Überblick und Rückblick auf die 40jährige Wüstenwanderung des Volkes. Gleich im ersten Verse dieses Wochenabschnittes rügt er Israel, und zwar durch eine Anspielung auf eine Reihe ihrer Empörungen gegen G-tt in der Wüste: "Dies sind die Worte, die Moses … gesprochen hat, in der Wildnis, in der Steppe, gegenüber Suf … und Di Sahaw."
Obwohl nun Moses in erster Linie das Volk rügen wollte, brachte er es dennoch nicht fertig, gleichzeitig – in den Worten der Rüge selbst – auch eine Entschuldigung anzudeuten, eine Art von Plädoyer für mildernde Umstände für jede der einzelnen Sünden, so dass dies wenigstens teilweise eine "Erklärung" und Verteidigung für Israels Vergehen sein konnte. Zum Beispiel:
Wildnis – Moses sagt: "... in der Wildnis", als eine Rüge für Israels Mangel an G-ttvertrauen, als sie, angesichts Wassermangels, bitter ausgerufen hatten (Exodus 16, 3): "Wären wir nur in der Wildnis gestorben!" Moses bedient sich des allgemeinen Ausdrucks "Wildnis", statt den tatsächlichen Ort jenes Vorkommnisses zu nennen (es war die Wüste Sin zwischen Elim und Sinai), um damit anzudeuten, dass damals das Vertrauen in der Tat ernstlich auf die Probe gestellt worden war. Denn letzten Endes war ihre Schuld doch keine so überwältigende, nachdem sie sich über Durst zu beklagen hatten. Waren sie doch (Deut. 8, 15) in der "großen und furchtbaren Wüste, voll mit Schlangen, Nattern und Skorpionen, trocken und wasserlos".
Die Steppe (Moabs) – Moses sagt: "... in der Steppe", das ist der Platz, an dem die Israeliten zugelassen hatten (vgl. Raschi zu Numeri 24, 14), von moabitischen Frauen verleitet zu werden. Wieder nennt Moses den genauen Ort nicht (es war Schittim, Numeri 33, 49), sondern legt Betonung auf "die Steppe", das heißt: die wohl bekannte Steppe Moabs, wo die ganze Umgebung schon dazu angetan war, die moabitische Unmoral, wie sie die Begründerin dieses Volkes (vgl. Raschi zu Gen. 19, 27) ihren Nachfahren vererbt hatte, auch auf durchziehende Reisende zu übertragen. Das war wiederum ein Verteidigungsmoment für das Verhalten des Volkes.
Gegenüber dem Meer – Moses sagt: "... gegenüber (dem Meere) Suf". Damit tadelt er sie für ihr mangelndes G-ttvertrauen am Schilfmeer. Das ägyptische Heer hatte sie dort eingeholt und sie hatten ausgerufen (Ex. 14, 11): "Gibt es nicht genug Gräber in Ägypten, dass du uns hierher gebracht hast um uns in der Wüste sterben zu lassen?" Selbst nach all den Wundern, die sie in Ägypten miterlebt hatten, kamen ihnen Zweifel, dass G-tt sie jetzt retten würde. Und wieder deutet Moses mildernde Umstände an, indem er betont, dass sie "gegenüber dem Meer" waren. Mit dem Meer vor ihnen und den Ägyptern hinter ihnen erschien die Lage aussichtslos. Er rügt sie auch hier, gibt aber ebenfalls zu verstehen, dass die Anklage nicht übermäßig hart sein kann.
Reichlich Gold – Nachdem er noch einige andere Vorkommnisse aufgezählt hat, schließt Moses mit den Worten: "... und (an dem Orte namens) Di Sahaw". "Sahaw" ist "Gold", und "Di" bedeutet "reichlich". Hier bezieht sich Moses auf das Goldene Kalb, welches sie gemacht und verehrt hatten. Dabei unterstellt er gleichzeitig, dass ihr großer Reichtum an Gold und Silber die Israeliten betört und zur Sünde verleitet hatte (vgl. Raschi zu Deut. 1, 1; Hosea 2, 10).
Die Sidra Dwarim wird jedes Mal am Schabbat vor Tischa beAw (bzw. am Datum des 9. Aw selbst) verlesen. Das ist der Fasttag, an dem wir über die Zerstörung des Tempels in Jerusalem trauern. Dies ist eine Zeit im Jahre, in der das jüdische Volk "gerügt" wird (s. Talmud, Taanit 29a). Doch in der Rüge ist auch eine gewisse Verteidigung inbegriffen, denn die ersten Worte der am Tischa beAw zu rezitierenden Klagelieder Jeremias ("Wie vereinsamt liegt die Stadt") beinhaltet auch, dass Israel selbst "vereinsamt" ist, wie es heißt (Num. 23, 9): "… ein Volk, das für sich allein (vereinsamt) wohnt und nicht unter die Nationen zu rechnen ist" – und dies ist an sich ein großes Lob. Weil wir eben ein Volk sind, das sich nicht "vermischt", werden wir den Verdienst haben, dass die Tage der Trauer um unseren heiligen Tempel baldigst umgewandelt werden in Tage der Freude für seine Wiedererrichtung durch unseren gerechten Maschiach – bald in unseren Tagen.
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