Mit der dieswöchigen Sidra beginnen die Vorlesungen aus dem fünften Buche der Tora – Dwarim (Deuteronomium). Darin wird dargestellt, wie Moses zusammen mit dem Volke auf die mannigfachen Ereignisse während ihrer 40jährigen Wüstenwanderung zurückblickt. Eine der Begebenheiten, auf die Moses sich im heutigen Wochenabschnitte ganz besonders bezieht (Deut. 1, 22-46), ist die Episode bezüglich der 12 Kundschafter, die er ausgesandt hatte, um das Land Kanaan zu erkunden. Von ihrer Mission zurückgekehrt, hatten zehn von ihnen die Israeliten vom Einzug in das Land abzubringen versucht. "Es ist ein Land, das seine Bewohner verschlingt", hatten sie gesagt (Num. 13, 32).
Wie konnten die Kundschafter es wagen, den Israeliten mit ihrer Beschreibung der stärke Kanaans Angst einzujagen? Hatten sie nicht alle persönlich die großen Wunder miterlebt, die G-tt für sie bei ihrem Auszuge aus Ägypten getan hatte, und danach tägliche Wunder in der Wüste? Sie erhielten ihr Brot vom Himmel (das Manna, das regelmäßig herunterkam) und Wasser von "Miriams Quelle" (einem Felsen, der sie auf ihren Wanderungen begleitete und sie mit Wasser versorgte). Sie hatten mit eigenen Augen gesehen, wie das mächtige ägyptische Heer bis zum letzten Mann im Schilfmeer untergegangen war. Musste ihnen allen da nicht klar sein, dass G-tt für sie ähnliche Wunder auch gegen die Kanaaniter vollbringen konnte?
Der Chassidismus legt die folgende Erklärung für die Worte der Kundschafter vor, und damit gewährt er gleichzeitig ein tieferes Verständnis für ihre Motive: Die Kundschafter vertraten die Ansicht, die einzige für das jüdische Volk mögliche Lebensweise sei diejenige, der sie gerade um jene Zeit folgten. Völlig von der übrigen Welt isoliert, hatten sie keine andere Wahl, als sich für ihren Unterhalt auf Wunder zu verlassen. Nach ihrem Einzug in Kanaan dagegen würde sich ihre Lebensweise radikal ändern. Fortan würden sie unter normalen, nicht unter übernatürlichen Bedingungen zu leben haben; und um ihren Lebensunterhalt zu finden, würden sie arbeiten müssen.
In einer solchen Situation aber, so behaupteten die Kundschafter, könnte man kein gesetzestreuer Jude sein. Das war es, was sie meinten, als sie sagten: "Es ist ein Land, das seine Bewohner verschlingt." Sie unterstellten damit, in Kanaan zu leben würde zur Folge haben, dass sie vom Lande "verschluckt" würden, das heißt, sie würden sich völlig in den irdischen Beschäftigungen des täglichen Lebens verlieren und darin untergehen. Unter solchen Umständen würde die Religion, notwendigerweise, einen minimalen, sehr zweitrangigen Platz einnehmen. Ihr großer Irrtum war, dass sie die übernatürliche Existenz in der Wüste als einen endgültigen Zustand betrachteten, statt zu erkennen, was er in Wirklichkeit war: Vorbereitung für das kommende natürliche und weltliche Leben in Kanaan – wo sie das Ideal eines von der Tora bestimmten Lebens verwirklichen würden.
Dieser Irrtum der Kundschafter ist gleich dem tragischen Fehler aller derjenigen, die der Religion einen Platz nur in der Synagoge zubilligen wollen, nicht aber in der Welt ringsum. In der Synagoge, so möchten sie geltend machen, sei es angebracht (in der Tat ziemlich leicht), sich so zu führen, wie ein Jude dies tun sollte, aber das Geschäftsleben und die ganze gesellschaftliche Ordnung seien der Religion abträglich.
Die Antwort darauf ist: Unsere schließliche Aufgabe, als geschaffene Wesen, besteht darin, dass wir, in dieser materiellen Welt lebend, durch die Tora alle Aspekte der weltlichen Betätigungen und der menschlichen Gesellschaft veredeln und auf eine höhere Stufe bringen, bis diese Welt (Tanchuma, Bereschit Rabba, Bamidbar Rabba und Tanja, Kap. 36) ein schicklicher Platz für G-tt ist, in dem Seine Allgegenwart sich manifestiert.
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