III. Die erste Erwähnung von Galut findet sich im „Bund Bejn haBetarim1, wo es heißt, dass „ein großer dunkler Schrecken auf ihn fiel“ – eine Anspielung auf die vier Exile Israels.2

Ein Bund schafft eine dauerhafte Bindung. Selbst wenn also eine Situation eintreten sollte, in der es keinen Grund für eine liebevolle Beziehung gibt, und in der Tat kann es gute Gründe für das genaue Gegenteil von Liebe geben, stellt der bestehende Bund sicher, dass das Band der Liebe in vollem Umfang in Kraft bleibt.

In Zeiten einer gut fundierten Liebesbeziehung ist ein Bund nicht nötig. Der einzige Zweck eines Paktes besteht darin, die Dauerhaftigkeit der Liebesbeziehung zu sichern, dass sie nicht von bestimmten Gründen und Erwägungen abhängt (d. h. eine „bedingte Liebe“, die aufhört, sobald ihr Grund nicht mehr besteht3 ), sondern dass es sich um eine wesentliche und uneingeschränkte Liebe handelt.

Ein Bund wird geschlossen, wenn es ein Gespür für die wesentliche und bedingungslose Liebe gibt. Der Bund wird dann geschlossen, um sicherzustellen, dass diese Liebe für immer bleibt, unabhängig von allen Veränderungen, die in der Zukunft eintreten können.4

In diesem Zusammenhang scheint es schwer zu verstehen, warum zur Zeit des „Bundes Bejn haBetarim“ von Galut die Rede sein sollte. Galut ist das genaue Gegenteil einer liebevollen Beziehung, selbst einer von Erwägungen getragenen Liebe, und ganz zu schweigen von einer bedingungslosen Liebe. Warum also sollte Galut zu dieser Zeit überhaupt erwähnt worden sein?

Auf Anhieb könnte man diese Frage mit dem Hinweis auf die Überlieferung beantworten, dass Awraham die Unterwerfung unter fremde Mächte (Galut) der Alternative von Gehinnom vorzog.5 Galut ist also eine Bevorzugung, und die Diskussion darüber würde in diesen Zeitabschnitt der offenkundigen Liebe passen.

Diese Antwort ist jedoch nicht ganz zufriedenstellend. Schließlich war die Zeit des Bundes eine Zeit der offenkundigen Liebe, der wesentlichen Liebe. In einer solchen Zeit sollte es weder einen Hinweis auf Gehinnom noch auf die Unterwerfung unter andere geben.

IV. Wir können dies jedoch verstehen, wenn wir die chassidische Erklärung der tieferen Bedeutung von Galut betrachten. In diesem Zusammenhang können wir auch ein schwieriges Konzept auflösen, das in der Gemara und im Midrasch auftaucht.

Die Gemara6 berichtet, dass, wenn Israel dem Willen G-ttes gehorchte, die Keruwim7 einander von Angesicht zu Angesicht zugewandt waren – „entsprechend dem Raum zwischen ihnen, mit Kränzen ringsherum“8, d. h., wie ein Mann, der seine Gefährtin umarmt; und wenn Israel dem Willen G-ttes nicht gehorchte, was bedeutet, dass es keine verheißungsvolle Zeit war, standen sie in entgegengesetzter Position [weg voneinander].

Im Midrasch9 heißt es, dass die Nichtjuden, als sie das Allerheiligste betraten, die Keruwim einander zugewandt vorfanden, wie ein Mann seine Gefährtin umarmt. Sie ergriffen sie und zeigten sie allen Völkern und riefen aus: „Seht, was dieses Volk anbetet.“

Dies wirft eine offensichtliche Frage auf. Die Zeit des Churban war keine verheißungsvolle Zeit. Warum sollten dann die Keruwim einander zugewandt sein?

Chassidut erklärt die tiefere Bedeutung von Galut mit einer Analogie der Beziehung zwischen einem Lehrer und seinem Schüler:

Wenn ein Lehrer versucht, seinem Schüler eine Erkenntnis zu vermitteln, drückt er seine persönliche Sorge um ihn aus. Es kann jedoch vorkommen, dass der Geist des Lehrers inmitten dieses Engagements von einer neuen Einsicht ergriffen wird. Normalerweise muss man sich, wenn so etwas passiert, auf diesen Geistesblitz konzentrieren, sonst geht er verloren und keine Anstrengung kann ihn wiederherstellen. Aufgrund der tiefen Liebe und Hingabe des Lehrers zu seinem Schüler möchte er sich auf den Geistesblitz konzentrieren, um ihn selbst vollständig zu erfassen und ihn dann auch an seinen Schüler weiterzugeben.

Je größer die Konzentration des Lehrers auf die neue Einsicht ist, desto geringer ist seine Aufmerksamkeit für den Schüler und desto schwächer ist sein Einfluss auf ihn. Je tiefgründiger der Gegenstand dieses Geistesblitzes ist, desto mehr Konzentration erfordert er. Das wiederum bedeutet auch, dass er sich zu diesem Zeitpunkt weiter vom Schüler entfernt, bis zu dem Punkt, dass es für den Schüler wie ein Zustand von Galut und Churban ist.

Dieser „Zustand von Galut“ ist jedoch nur auf der äußeren Ebene. In Wirklichkeit bedeutet er die endgültige Offenbarung. In der Tat lohnt es sich für den Lehrer, sich vom Schüler zu dessen eigenem Nutzen zu distanzieren: Dadurch wird die Möglichkeit geschaffen, dass die neue Erkenntnis auch dem Schüler vermittelt wird. Die Kostbarkeit der neuen Einsicht macht es für den Schüler lohnenswert, sich einer momentanen Galut zu unterziehen, damit sie ihm am Ende offenbart werden kann. Das Ausmaß dieser Enthüllung steht im Verhältnis zum Ausmaß der Verhüllung.

Diese Analogie verdeutlicht die tiefere Bedeutung von Galut. Äußerlich erscheint sie als Verbannung und Zerstörung. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um eine ultimative Form der Offenbarung, die die zukünftige Erlösung manifestiert. Im Hinblick auf die zukünftige Erlösung lohnt es sich, die äußere Galut und den Churban zu haben, die nur vorübergehend sind, damit wir am Ende die Offenbarung dieser zukünftigen Erlösung haben können.

V. Die Reihenfolge der Galut selbst zeigt, dass sie in Wirklichkeit eine Offenbarung des Lichts ist. Wenn wir die Abfolge der Galut betrachten, können wir sehen, dass sie nicht nur eine Form der Sühne für Sünden, Missetaten und Übertretungen ist, sondern auch einem höheren Ziel dient.

Wäre die Sühne allein der Zweck von Galut, müssten wir eine allmähliche Abschwächung und Erleichterung der Galut feststellen. Jeder Zeitablauf bedeutet zusätzliche Sühne für Sünden und Übertretungen. Im Laufe der Zeit sollte die Galut also immer weniger werden. In Wirklichkeit stellen wir jedoch fest, dass die Galut im Laufe der Zeit immer strenger geworden ist. So war es mit der Galut in Ägypten, und so ist es auch mit der heutigen Galut:

Das jüdische Volk verbrachte 210 Jahre in Ägypten.10 Die ersten 17 Jahre waren sehr gut.11 Nach dem Tod Jaakows gab es während der gesamten Lebenszeit von Jaakows Söhnen keine Versklavung.12 Auch danach begann die wirkliche Härte der Galut erst mit der Geburt Mirjams und dauerte 86 Jahre13 – was dem numerischen Äquivalent des G-ttlichen Namens Elokim entspricht.14 Darüber hinaus kam während dieser 86 Jahre der Erlass „Man gibt uns kein Stroh mehr, aber man sagt uns, wir sollen Ziegel machen“15 erst ganz am Ende, als die Erlösung sehr nahe war: „Sobald ich zum Pharao kam, ... machte er die Dinge für dieses Volk noch schlimmer.“16

Auch in der vorliegenden Galut stellen wir fest, dass es im Laufe der Zeit immer schlimmer wird, mit einer immer geringer werdenden Manifestation der G-ttlichkeit. Zu Beginn dieser Galut gab es die Manifestation durch die Tanna-im und Amora-im,17 und mit fortschreitender Zeit wurde die Verhüllung immer intensiver. In den letzten Generationen, kurz vor dem Maschiach, gibt es so gut wie keine Manifestation mehr. Deshalb werden diese Zeiten Ikweta deMeschicha (die Fersen des Maschiach) genannt,18 abgeleitet von dem Konzept der „Fersen“, die (auf der sichtbaren Ebene) keine Vitalität aufweisen, wie es in Awot deR. Nathan19 heißt, dass die Fersen den Todesengel im Menschen bezeichnen.

Die Abfolge der Galut zeigt also, dass die Galut nicht nur eine Sühne für Sünden ist, sondern auch einem höheren Ziel dienen muss. Der tiefere, innere Sinn der Galut dient dazu, ein neues Licht zu offenbaren. Es ist gerade die Erwartung dieser Offenbarung, die eine Reduzierung der regulären Ausstrahlung mit sich bringt. Je mehr wir uns also mit der zukünftigen Erlösung beschäftigen, je näher wir dem Maschiach kommen, desto intensiver ist die Galut.20

VI. Dies erklärt die bereits erwähnte Begebenheit im Midrasch, wie die Nichtjuden die Keruwim einander umarmen sahen. Die Aspekte von Galut sind nur etwas Äußerliches. In Wirklichkeit ist es eine ultimative Offenbarung. Im Allerheiligsten, dem innersten Ort, standen sich also die Keruwim gegenüber, weil es (wie gesagt) im letztendlichen Sinne eine verheißungsvolle Zeit war.

Dies erklärt auch, warum es zur Zeit des Bundes von Bejn haBetarim einen Hinweis auf die Galut gab. Auch dort war sie ein Aspekt der letztendlichen Offenbarung. Als der Bund geschlossen wurde, ein Ereignis, das auf eine Beziehung der absoluten Liebe hinwies, war es also auch die Zeit der Ankündigung der Manifestationen der zukünftigen Erlösung, auch wenn sich dies aufgrund der an sich vorgesehenen Entwicklungen als ein Aspekt von Galut ausdrückt.

VII. Die praktischen Auswirkungen, die sich auf unsere Awoda (Dienst an G-tt) beziehen, sind wie folgt:

Die Galut wird immer intensiver bis zu dem Punkt, an dem die „Herrschaft sich in Ketzerei verwandelt“21, ein Zustand der Dunkelheit, wie es ihn noch nie gegeben hat. Dennoch darf man sich davon nicht beeindrucken lassen, indem man erkennt, dass die Dunkelheit schlimmer wird, weil man dem Licht der Erlösung immer näher kommt.

Um das Licht der Erlösung mit den Empfängern auf unserer konkreten weltlichen Ebene zu verwirklichen, brauchen wir, wie der Schüler in der Analogie, zwei Dinge: a) das Bewusstsein der Tatsache, dass die Verhüllung und die Entziehung nur ein äußerer Zustand ist, während die innere Realität eine ultimative Offenbarung ist, und b) eine fortdauernde Bindung an und Sehnsucht nach dem Lehrer.22 Auf der äußeren Ebene scheint der Lehrer sich zurückgezogen zu haben, aber der Schüler muss seine Bindung und Sehnsucht nach dem Lehrer genauso wie während der Zeit der tatsächlichen Lehre beibehalten, ja sogar noch mehr. So rief der Alte Rebbe in einem Zustand von Dewekut (religiöse Ekstase) aus: „‚Wen habe ich im Himmel …?‘23 – Ich will gar nichts anderes! Ich will nicht Deinen Garten Eden, ich will nicht Deine Kommende Welt ... Ich will nichts als Dich allein!“24 Diese Sehnsucht bewirkt im Empfänger die Manifestation des neuen Lichts der zukünftigen Erlösung, möge sie in unseren Tagen rasch eintreten.

(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Schabbat Paraschat Matot-Massej 5716)