Die chassidische Philosophie lehrt, in der Form eines Gleichnisses, dass die jüdische Seele mit dem einzigen Sohne eines Königs zu vergleichen ist. Der König war mit seinem Sohne sehr wohl zufrieden, solange sich dieser zu Hause, im Palast, aufhielt. Er wollte jedoch herausfinden, welche Fähigkeit und innere Stärke der Prinz besaß, wenn es sich darum handelte, in der alltäglichen Welt zu leben, außerhalb des künstlichen Schutzes, den er innerhalb der Palastmauern genoss.
Daher entschloss er sich, seinen Sohn in eine fremde Stadt zu schicken, zu einem fernen Lande, in eine Umgebung also, die ihm völlig unbekannt war. Dort hatte der Prinz die erste praktische Möglichkeit, zu zeigen, wie er die Schwierigkeiten, die zweifellos auf ihn warten und eindringen würden, meistern würde. Weit entfernt vom Palast, erst da würde der Sohn all seine Fähigkeiten dem Vater vor Augen führen können – etwas, für das ihm im Schutz seines Heimes keine Gelegenheit geboten war.
Dies denn, so lehrt die chassidische Philosophie weiter, beschreibt den Zustand der Seele, die, aus der G-ttlichen Sphäre heruntergestiegen, Unterkunft in dem fremden und entlegenen "Lande " des Körpers finden muss. Dieser Abstieg ist nichts zufälliges, sondern er ist von G-tt gewollt und geplant, um damit die Seele zu läutern und sie, ganz zum Schlusse, in einen noch höheren Zustand als vordem zu versetzen. Es gibt nichts Gefälligeres für den König – für den König der Könige, gepriesen sei Er –, als mit anzusehen, wie die von Ihm geschaffene Seele all ihre Fähigkeiten zum Einsatz bringt, im vollsten Maße, in der Praxis, im konkreten Leben – nicht bloß als eine rein theoretische Veranlagung, eine nur potentielle Begabung.
Wenn die Seele ihre wirkliche Befähigung unter Beweis stellen kann, dann wird damit augenfällig (sogar in unserer "unteren " Welt), dass sie einen Teil des G-ttlichen selbst bildet, nichts weniger, und dass sie den Willen des Königs ausführt – noch getreuer, als dies im königlichen Palast selbst möglich war.
In gleicher Weise nun, wie diese Parabel auf alle Seelen, ganz allgemein, zutrifft, soweit es sich um ihr Heruntersteigen in der Welt der Materie handelt, illustriert sie auch das Exil der Juden, durch das sie aus dem Heiligen Land in die Zerstreuung getrieben worden sind, wie wir es im Musafgebet für die Feiertage zum Ausdruck bringen: "Wegen unserer Sünden sind wir aus unserem Lande (in die Zerstreuung) verbannt worden."
Man muss verstehen, dass dieses unser Exil ebenfalls als ein Heruntersteigen zu einem ganz bestimmten Zwecke zu werten ist. Die Verbannung ist nicht eine bloße Bestrafung. Vielmehr liegt die ganze Funktion und Wirksamkeit dieser Zerstreuung – mit all dem Leiden, das damit verbunden ist – darin, dass damit etwaige rohe und unerwünschte Eigenschaften in uns selber verbessert und geläutert werden, um dadurch dann auf eine Erhöhung zu einem Niveau abzuzielen, das noch höher als das frühere ist.
Damit erklärt sich alsbald das Paradoxom, dass gerade im Galut, in der Diaspora, der großartige Babylonische Talmud geschaffen werden konnte, von den hervorragendsten Gelehrten und mit tieferen Einsichten, als sie vor der Zerstreuung bestanden. Der Midrasch hat für dieses Phänomen seine eigene Analogie, nämlich diese: "Die Olive bringt kein Öl hervor, es sei denn, sie wird erst stark gequetscht." Die Qualität der Olive kann ganz gewiss schon vor dem Zerdrücken richtig eingeschätzt werden, um aber ihren schließlichen Zweck zu erfüllen, muss sie die Qual des physischen Zerdrückens durchmachen.
Man kann diesen Vergleich noch eine Stufe weiter führen: Zusätzlich zum (allgemeinen) Abstieg der Seele in die Welt der Materie und dem (mehr spezifischen) Heruntersteigen unseres Volkes vom Heiligen Land in die Zerstreuung gibt es auch persönliche, rein individuelle Abstiege und Wanderungen. Diese sind dazu bestimmt, gewisse Einzelpersonen am Ende auf einen Stand zu bringen, der weit über die Stufen jener reicht, welche Prüfungen dieser Art nicht durchgemacht haben. Zum Beispiel erzählt der Talmud die Geschichte des großen Gelehrten Raw, der nach Babylon kam, als es dort kein Tora-Studium gab. Später aber wurde Babylon, gerade auch durch Raws Bemühungen, zu einem Zentrum höchster Tora-Gelehrsamkeit, so dass der babylonische Talmud den palästinensischen überflügelte. So führte Raws "Abstieg" aus dem heiligen Land, hinunter nach Babylon, zu einer vorher beispiellosen Blüte des Tora-Studiums.
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