Die Sidra Masej beginnt mit dem Vers (Numeri 33, 1): "Und dies sind die Wanderungen der Israeliten, durch die sie aus dem Lande Ägypten ausgezogen waren." Hier ergibt sich gleich eine Schwierigkeit; denn nur sie erste der in diesem ganzen Kapitel aufgezählten Wanderungen – nämlich diejenige von Ramses nach Sukkot (Vers 3 und 5) – kann doch, streng genommen, als "Auszug aus Ägypten" angesehen werden; was weiter erfolgte, war alles außerhalb Ägyptens. Weshalb steht da das Subjekt unseres Verses im Plural – "die Wanderungen"?
Außerdem ist zu fragen, was es bedeutet, dass diese 42 Wanderungen von Ägypten ins Heilige Land als ein Hinaufführen in das "gute und geräumige" Land (Exodus 8, 8) bezeichnet werden. Das Gegenteil von "geräumig" ist "eng" oder "begrenzt". Indessen hatten die Israeliten sofort bei ihrem Auszuge aus Ägypten ihre Beschränkung und Einengung aufgegeben. Warum sagt die Tora dann, dass sie erst am Ende von 42 Wanderungen "Geräumigkeit" erreichen würden?
Die Antwort ist diese: Die Begriffe von Begrenzung und Geräumigkeit können, zusätzlich zu ihrem einfachen Wortsinn, auch im übertragbaren Sinne, verstanden werden, nämlich als eine Bezeichnung auf geistiger Ebene. Wie es ja auch im "Hallel" heißt (Psalm 118, 5): "Aus der Bedrängnis rief ich zu G-tt; Er antwortete mir in der G-ttes-Weite." Wenn ein Jude seinem geistigen Ziele entgegenstrebt, dann ist dieser Vorgang ein solcher, dass er aus der Enge und Not seiner inneren Konflikte zu den Weiten von harmonischer Ruhe vordringt, von dem engen Pfad, der durch die weltlichen Ablenkungen führt, hin zu jener breiten Fläche, auf der er sich G-tt zugesellen kann.
Jede Etappe, die er so erreicht, ist geräumiger als der vorherige Standort, und doch ist auch diese neue Etappe noch eine begrenzte, verglichen mit dem endgültigen Niveau, nach dem er emporstrebt – bis er schließlich das Endziel erreicht, das messianische Zeitalter; wo er den Jordan überquert", die eigentliche Wasserscheide zwischen Wandern und Ankommen.
Das ist die innere Bedeutung der Ausdrucksweise hier, das ist der Grund, weshalb alle 42 Wanderungen, nicht nur die erste, "Auszug aus Ägypten" waren. Denn jedes Weiterziehen, welches sie dem Lande Israel und damit ihrem wirklichen Geschick näherbrachte, ließ den vorherigen Standort wie eine Beschränkung erscheinen, wie ein weiteres "Ägypten". Jede Teilstrecke kam einem neuen "Auszug" gleich. Das geographische Land Ägypten hatten sie längst hinter sich gelassen. Aber sie mussten noch über das "Ägypten" des Geistes und der Seele, die geistige Enge, hinausmarschieren.
Die Tora hat ewige Gültigkeit. Das ist ganz besonders augenfällig, wenn es sich um den Auszug aus Ägypten handelt, in Bezug auf den doch jeder Jude angehalten ist (Mischna, Pessachim 10, 5), "sich so einzuschätzen, als sei er heute aus Ägypten ausgezogen". Den 42 Wanderungen unseres Wochenabschnittes wohnt daher, sehr speziell, eine dauernde Bedeutung inne, für alle Zeiten.
Es gibt viele "Ägypten", die jeder einzelne hinter sich lassen muss. Auf einer Stufe mag dies die Beschränkung des Alltagslebens sein, wie er darin gefangen gehalten wird. Auf einer anderen Stufe mag es die Begrenzung des menschlichen Gesichtskreises, die dem Verstande besetzte Grenze sein, wo dann seine Jüdischkeit nur wie durch eine dunkle Linse – das ist: in der Form von Rationalisierung – durchsickert. Aber sogar wenn er diese Etappen hinter sich gelassen hat und sein Glaube nicht mehr auf seinen Verstand angewiesen und durch diesen eingeschränkt ist, selbst dann muss er immer weiter ansteigen, auf neue und geräumigere Hochebenen, die höher und breiter sind als, sein augenblicklicher Zustand.
Dieser Vorgang ist insbesondere beim Beten ersichtlich. Das Gebet ist gleich Jakobs Leiter (Genesis 28, 12). "deren Fuß auf der Erde steht und deren Spitze in den Himmel reicht". Sie hat viele Sprossen; und jeder einzelne Schritt empor ist, im Gebet, eine Fortbewegung von der Beschränkung dieser Welt zu den Welten des Himmels hin.
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