Das vorwöchentliche Thema (Stärkung von Tora und Judentum) weiterführend, fügte der frühere Lubawitscher Rebbe, R. Josef Isaak Schneersohn sel. A., in einem Briefe diese Klausel hinzu: "An jedem Ort entsprechend der dortigen Lage". Es erscheint beim ersten Hinblick schwierig, diese Rücksichtnahme auf örtliche Verhältnisse mit dem Prinzip in Einklang zu bringen, dass die Tora unveränderlich und von ewiger Gültigkeit ist, und dass ihre Werte in allen Umständen zur Anwendung kommen müssen.

Es muss jedoch deutlich ausgesprochen werden, dass es sich hier um keine Abänderung von Tora und Judentum handelt. Vielmehr wird hier auf die anzuwendende Methode bezug genommen, und es wird uns bedeutet, dass diese von der Natur und den verschiedenartigen Bedürfniessen jeder Umgebung abhängig ist. Was immer die Erfordernisse "an jedem 0rt" sind, wie die Tora dort zu stärken ist, so muss diesen entsprochen werden; denn an gewissen Plätzen könnte es sehr wohl angebracht sein, den Lehr- und Erziehungsvorgang nur schrittweise vorzunehmen (wie weiter unten auszuführen sein wird). Es ist dagegen nicht angebracht, die Tora sozusagen auf das Niveau jeder x-beliebigen Örtlichkeit "herunterzubringen" und sie unterschiedlichen menschlichen Intelligenzen anzupassen. Das wäre der genaue Gegensatz des Begriffes "Tora der Wahrheit". Die Wahrheit kann nicht verdreht werden.

Zudem wäre durch eine Abänderung von Tora keinem ein Gefallen getan, denn dadurch würde der Mensch nur dazu gebracht, sich an die Unwahrheit zu gewöhnen. Jeder einigermassen intelligente Mensch würde, wenn ihm eine verkürzte Tora, ein zurechtgestutzt es Judentum präsentiert würde, dies nur übelnehmen; er würde Vorwürfe machen: "Weshalb wurde mir nicht gesagt, dass es 613 Mizwot gibt, die gesamte Tora? Trautet ihr mir nicht; glaubtet ihr, ich würde mich dadurch abschrecken lassen? Lasst mich doch selbst entscheiden, ob ich alles akzeptieren will oder nicht. Sagt nicht, es gäbe ein Goldenes Kalb und es wäre richtig, das zu tun, was 'jeder' tue, nämlich es anzubeten - und doch könnte ich ein Jude bleiben."

Menschen geben leicht ihren Schwächen nach; oft können sie Versuchungen nicht widerstehen, und so sündigen sie. Dennoch sehen sie ein, dass die Tat falsch war. Die Tat ist verderbt, aber das Ideengebäude des Menschen, seine Überzeugung, bleibt intakt. Wenn dagegen jemand höhnisch behauptet, Tora und Mizwot seien veraltet und "heute" reiche es aus, sich allein an die Sozialgesetze zu halten, wenn er sich also anmasst, die Mizwot zwischen Mensch und G-tt neu zu überprüfen, um zu sehen, ob diese der nichtjüdischen Welt auch zusagen, und wenn er nur die "populären" Gebote beibehalten will: dann bedeutet eine solche Haltung, dass man eine Sünde eine Mizwa nennt, und es handelt sich um eine Verdrehung von Tora, eine Verzerrung der Ehrlichkeit. Was immer ein Mensch tut, er muss erkennen, dass Sünde Sünde und Mizwa Mizwa ist, und ihnen ein falsches Etikett anzukleben, ist korrupt.

Jemand nun, der in eine Gemeinde zieht, der die Grundprinzipien des Judentums fremd sind, wo Schabbat, Kaschrut und die Einhaltung der anderen Mizwot einfach nicht existieren, muss selbstverständlich irgendwo anfangen; und er kann ganz bestimmt nicht die ganze Tora sofort und auf einmal lehren. Er muss sich jedoch davor hüten, den Eindruck zu geben, dass diejenige Mizwa, mit der er irgendwie den Anfang macht, die Totalität von Tora bedeute. Er muss sie als den ersten Schritt beschreiben, das "Aleph", das vor dem "Beth" kommt, und dass auch außer dem "Beth" noch viel mehr zu erwarten ist.

Das "Kind" kann nicht mehr als jeweils einen "Buchstaben" auf einmal erlernen; dies jedoch ist nur eine Sache der Fassungskraft, nicht eine Begrenzung des Themas. Ihm muss einleuchten, dass alles Weitere ihm nur vorübergehend vorenthalten ist, und dass die Tora aus viel mehr besteht, als ihm im Augenblick vorgeführt wird. (Das "Aleph" ist der erste Buchstabe des Wortes "Emet", Wahrheit, es ist aber nur dann ein Teil dieses Wortes, wenn das ganze Wort vollständig ist. "Aleph" als solches ist nicht "Emet".) Morgen wird es den nächsten "Buchstaben" lernen, und so wird es weitergehen, bis es das ganze Erbgut sein eigen nennen kann.

Schritt für Schritt, eine Mizwa auf einmal, wird ein Jude mit dem authentischen, unverwässerten Judentum bekannt gemacht. Er muss einsehen, dass er bis jetzt nur einen Teil besitzt, dass er mehr erhalten wird, zur richtigen Zeit, wenn er dazu "bereit" ist. Er soll sich aber niemals dem Wahne hingeben, das bischen, das er hat, sei alles, was Judentum und Tora ihm zu bieten haben.

Zusammenfassende Übersicht:

Es ist allein eine Sache der Methode, dass man Tora und Judentum "an jedem Ort entsprechend der dortigen Lage stärkt. Es bedeutet nicht, dass man die Tora auf ein begrenztes Niveau "herunterbringen" darf.