Wir lesen augenblicklich allwöchentlich Abschnitte aus dem Buche Bamidbar. Die allererste Mizwa in Bamidbar lautet: "Nehmt die Zahl der ganzen Gemeinde der Kinder Israel auf" (Num. 1, 2). Das Buch heißt deshalb auch "Numeri" (Zahlen), weil es mit dem Befehl einer Volkszählung der Juden beginnt (s. Talmud Sota 36b).
Wenn immer etwas gezählt wird, ist das Wesen der gezählten Personen oder Dinge ganz belanglos. Eine Volkszählung gibt an sich über die Beschaffenheit der Bevölkerung keine Auskunft; das Zählen allein hat nichts damit zu tun, ob jemand als individuelle Person bedeutend oder unwichtig ist. Die relative Größe der Einzelperson macht nichts aus; der größte gilt für nicht mehr als eins und der kleinste nicht weniger als eins.
Scheinbar erfahren wir nichts über die Eigenschaften des jüdischen Volkes, wenn wir bloß wissen, wie viele davon es gibt. Damit liegt eine entscheidende Frage auf der Hand: Wenn das Zählen tatsächlich so oberflächlicher Natur ist, dass aus ihm der Qualitätsstand der Gezählten nicht hervorgeht, wie ist es dann zu erklären, dass diese Volkszählung die erste und bestimmende Mizwa dieses Buches der Tora ist, so dass das ganze Buch Bamidbar "Numeri" genannt wird?
Im System der jüdischen Kaschrut-Gebote gibt es den Begriff von "Bittul", das heißt so viel wie "Annullierung" oder "Zunichte werden". Unter gewissen Bedingungen kann eine kleine Quantität von "trefa" (nicht-koscheren) Speisen "zunichte werden" und dadurch den Zustand von "nicht-koscher" verlieren. Wenn z.B. ein kleines Stück von nicht-koscherem Fleisch zufälligerweise mit etlichen Stücken von koscherem Fleisch derart vermischt worden ist, dass man nun nicht mehr feststellen kann, welches das nicht-koschere Stück ist, ist es unter Umständen gestattet, alles Fleisch zu essen. Das Stück trefa Fleisch wird jetzt als "Batul" - "annulliert" – angesehen, weil es in der größeren Masse der koscheren Stücke "verschwunden" ist; das heißt, es hat seine Individualität – seine individuellen, spezifischen Charaktermerkmale – verloren.
Diese Möglichkeit besteht jedoch nur dann, wenn der Gegenstand der "Annullierung" etwas ist, das nach Gewicht verkauft wird – wie gerade zum Beispiel Fleisch. Sollte dagegen beispielsweise ein trefa Ei zwischen koscheren Eiern "verloren" gehen, so sind alle Eier, selbst wenn es sich um 1.000 handelt, nicht zum Genusse erlaubt; dem wir können nicht feststellen, welches davon das nichtkoschere Ei ist. In diesem Fall dürfen wir das Ei nicht als "Batul" ansehen, denn Eier werden nach der Anzahl (per Dutzend) verkauft; und es ist ein generelles Prinzip im jüdischen Recht, dass ein Ding nicht "Batul" werden kann, das nach der Anzahl (stückweise) verkauft wird, weil nämlich dadurch seine individuelle Bedeutung angezeigt ist (Mischna Orla 3, 7; Talmud Beza 3b und Anmerkungen dort; Dore Dea 110).
In anderen Worten: Die Tatsache, dass etwas gezählt wird, lässt klar erkennen, dass jede Einheit in dieser Gruppe als von besonderem Werte betrachtet wird, dass es also unterschiedlich ist; es kann somit nicht "Batul" oder "nichtig" sein.
Die innere Bedeutung der Zählung des jüdischen Volkes wird damit klar erkenntlich: Wenn auch die Volkszählung über den Qualitätsstand des individuellen Juden, im Vergleich zu jedem anderen, nichts aussagt, so zeigt uns G-ttes Auftrag, sie zu zählen und jedem eine "Nummer" zu geben, dennoch den Wert und die Wichtigkeit des jüdischen Volkes insgesamt und jedes einzelnen Juden individuell.
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