Paraschat Bamidbar beginnt mit dem Gebot, das ganze jüdische Volk zu zählen. Da diese Parascha die erste im vierten Buch Moses ist, hat auch das ganze Buch im Talmud diesen Namen „Das Buch der Zählung“ erhalten. Auch im lateinischen heißt es „Numeri“ was ungefähr auf dasselbe hinausläuft.
Nun muss man sich aber fragen, weshalb ausgerechnet diese Mizwa als Beginn eines neuen Buches der Tora gewählt wurde. Das Zählen bringt scheinbar weder besondere moralische Eigenschaften beim Menschen hervor, noch ist es auf den ersten Blick aus irgendwelcher anderer Perspektive eine besonders bedeutungsvolle Mizwa (Gebot).
Warum konnte nicht zum Beispiel ein Gebot wie Zedaka (gerechte Wohltätigkeit) oder eine andere besonders wichtige Mizwa als erste des ganzen Buches ausgewählt werden?
Es gibt ein Gesetz im Talmud und in der Halacha (Jüdisches Gesetz), dass Objekte, welche normalerweise vor dem Verkauf gezählt werden, einen besonderen Status haben und nicht verloren gehen („batel werden“) können.
Zur Illustration: Nüsse werden vor dem Verkauf meistens nicht gezählt. Der Käufer ist nicht genau daran interessiert, wie viele Nüsse er gekauft hat, denn jede Nuss an sich hat keine besonders grosse Bedeutung. Dagegen werden Eier meistens gezählt und im Dutzend verkauft. Dies zeigt, dass bei den Eiern die Zahl sehr wohl eine Rolle spielt.
Wenn nun eine (aus irgendwelchem Grunde) verbotene Nuss zwischen zwei andern verloren geht, dürfen alle Nüsse genossen werden, da die Nuss zwischen den Anderen sozusagen an Bedeutung verliert. (Diese Regel hat ihre Ausnahmen. Für eine praktische Anwendung dieses Prinzips wenden Sie sich deshalb bitte vorher an eine kompetente halachische Autorität). Wenn jedoch ein verbotenes Ei zwischen hundert Anderen verloren geht, sind alle Eier verboten, da jedes diese Eier das Verbotene sein könnte.
So kann man erklären, dass die Volkszählung zwar nicht die besonderen Eigenschaften des einzelnen in Vergleich mit gleichartigen hervorhebt, dafür jedoch die Bedeutung der ganzen Gruppe unterstreicht. Das jüdische Volk hatte eine lange Geschichte von Vertreibungen und Exil unter fremden Ländern und Kulturen vor sich und musste aus diesem Grund irgendwie innerlich gestärkt werden, um als kleine Minderheit seine eigene Identität zu bewahren. Durch die Volkszählung, welche wie gesagt den besonderen Wert des gezählten hervorhebt, wurde dies garantiert.
Doch ganz kann uns diese Antwort nicht befriedigen, da ja verständlicherweise die Zählung nicht dem gezählten seinen Wert gibt, sondern umgekehrt: weil etwas schon wertvoll ist, wird es auch gezählt?
In Wirklichkeit jedoch finden wir im jüdischen Gesetz sehr wohl, dass die Anzahl den Wert der Sache beeinflusst. Quantität und Qualität voneinander zu trennen, ist eine wichtige Regel in dieser materiellen Welt. Doch in einem geistigen Sinn verschmelzen diese beiden Begriffe zu einem Ganzen. Durch das zusammenkommen mit anderen, wir die geistige Kraft und Energie jedes Einzelnen vervielfacht. So finden wir zum Beispiel im Midrasch (homiletische Erklärungen zum Chumasch), dass falls nur einer der 600.000 Juden beim Berg Sinai gefehlt hätte, die Tora nicht gegeben worden wäre. Denn nur diese ganze Summe konnte dieses über alles wichtige Ereignis bewirken.
Genauso finden wir, dass ein Minjan (Versammlung von zehn erwachsenen Männern) nötig ist, um gewisse Gebete sagen zu dürfen. Neun der größten Gelehrten könnten dieses Minjan nicht bilden, während zehn einfache und ungebildete Männer dieses zu seiner Vollständigkeit bringen können. So auch bewirkte die Volkszählung eine Vereinigung der Individuen, welche eine Summe die größer als die einzelnen Teile aus denen sie besteht, bildete.
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