Zum Ereignis der Offenbarung der Tora, Thema des nächste Woche zu feiernden Schawuot-Festes, lassen sich vielerlei Gedanken vortragen. Im Folgenden sei hier ein sehr spezifischer Gesichtspunkt erörtert:

Die Tora, Weisheit des Schöpfers, ist unendlich, grenzenlos, wie es heißt (Hiob 11, 9): "… länger als die Erde und breiter als die Meere ..." Als G-tt uns die Tora am Berge Sinai verkündete, offenbarte Er sie jedem einzelnen (seinen individuellen Fähigkeiten entsprechend); bei jeder Person steht ihre Auffassungskraft und damit das Verständnis des Wesens der Tora in direktem Verhältnis zu ihrem individuellen Intelligenzniveau. Damit ist angezeigt, dass es vielerlei und verschiedenartige Perspektiven geben kann.

Zum Beispiel: Manchen mag vor allem der Gesichtspunkt von "Belohnung" einleuchten. Sie begreifen, dass jemand, der die Tora für sich wählt, buchstäblich das Leben für wählt, ist doch der Lohn ein großer, sowohl in dieser Welt wie in der nächsten. Ein solcher Jude daher, der die Tora befolgt, führt allein damit schon ein besseres Leben, weil die Tora ihn vor "Unfällen" schützt.

Jemand anderer aber fasst die Dinge auf andere Weise auf: Für ihn ist die Tora eine Quelle von Anleitung und Orientierung. Damit ist dann dem einzelnen wie der Gemeinschaft der richtige Weg gewiesen, denn (Sprüche Salomons 3, 17) "ihre Wege sind Wege von Lieblichkeit, und all ihre Pfade führen zum Frieden".

Dabei ist allerdings zu beachten, dass keine dieser beiden Perspektiven (welche, wohlgemerkt, lediglich für die "offenbarte" Tora, also ihre "äußere Hülle", Geltung haben können) ein vollständiges Bild vermittelt. Was hingegen den inneren "Kern" der Tora, ihr "Licht", ihr eigentliches Wesen betrifft, so lehrt der Chabad-Lubawitsch-Chassidismus, dass die Tora das zentrale Bindeglied ist, durch das die Schöpfung an den Schöpfer gekettet ist – wie der Sohar es ausdrückt: Drei sind miteinander verbunden – Israel, die Tora und der Allmächtige.

Wie nun kam die Tora eine Verbindung herstellen zwischen der endlichen, begrenzten Schöpfung und ihrem unendlichen Schöpfer? In aller Kürze kann dies so erläutert werden: Die Schöpfung war "Jesch Me-Ajin", das heißt: "ex nihilo", aus dem Nichts. Die Materie also erstand aus gar nichts – nicht aus einer vorherigen "Ursache", in einer ganzen Serie von "Ursache-und-Folge"-Beziehungen.

Folglich besteht keine Beziehung oder Verbindung zwischen dem "Jesch" (der Materie) und dem G-ttllichen "Ajin" (dem "Nichts"), welches all dies hervorgebracht hat. Dabei ist es unerheblich, ob dieses "Jesch" nun ein lebloser Stein oder der höchststehende Mensch ist; denn alle Materie – Mineralien, die Pflanzenwelt, die Tierwelt und der Mensch – ist etwas Geschaffenes.

Sogar der intelligenteste Mensch, das größte Genie, kann G-ttes Wesen nicht begreifen, und zwar deshalb, weil diese seine Intelligenz selbst etwas Geschaffenes ist. Es gibt eben keinen "Treffpunkt" zwischen dem Endlichen und dem Endlosen.

Der Schöpfer jedoch, in Seiner großen Gnade, wollte dem Menschen die Möglichkeit – das Potential – verleihen, aus den Begrenzungen eines geschaffenen Wesens herausbrechen zu können, um immer höher zu steigen, über diese physische Welt hinaus, und so sich seinem Schöpfer immer mehr zu nähern. In diesem Geiste gab Er uns daher die "Tora der Wahrheit" und heiligte uns durch Seine Gebote, mit deren Hilfe der Mensch in die Lage versetzt ist, sich von seiner begrenzten Welt zu lösen und sich an G-tt "anzuschließen", wie die Tora selbst es sagt (Deut. 44): "Ihr, die ihr euch an G-tt anschließt, ihr lebt alle an diesem Tage."