Vorige Woche haben wir auf den grundsätzlichen Irrtum der von Moses ausgesandten Kundschafter hingewiesen, der darin bestand, dass sie eigentlich nicht gewillt waren, die Tora auf die Praxis zur Anwendung zu bringen, auf das tägliche, materielle Leben.
Zu dieser geradezu klassischen "Theorie des Widerstreites" zwischen Theorie und Praxis gibt es noch eine weitere Dimension. Diese lässt sich am besten durch den wesentlichen Unterschied zwischen der griechischen Wissenschaft der Antike und der heutigen modernen Wissenschaft illustrieren. Für die Griechen war eine feste und unabänderliche Theorie wichtig, ja, geradezu sakrosankt. Sollten Tatsachen oder Beobachtungen einer solchen genau formulierten Theorie zuwiderlaufen, dann wurden jene Tatsachen oder Beobachtungen in Frage gestellt oder einfach abgeleugnet. Demgegenüber ist die moderne Wissenschaft eine empirische: Hier werden die Theorien erst aus den Beobachtungen und aus sorgsam vorbereiteten Experimenten abgeleitet. Um authentisch zu sein, muss eine Theorie in der Lage sein, neue Phänomene in Kauf zu nehmen und in sich einzuordnen, wo immer und wann immer diese entdeckt werden.
Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, verkörperten die Kundschafter dieselbe Begriffwelt, wie sie in der fehlerhaften griechischen Philosophie und Wissenschaft zum Ausdruck kam. Die Kundschafter hatten eine an sich ganz gute Theorie, aber sie zögerten, sie in der materiellen Welt einem Experiment zu unterziehen und sie so unter Beweis zu stellen. Demgegenüber bestand Moses darauf, dass die Theorie in das praktische Tun umgesetzt würde. Die Vorschriften der Tora würden erst dann ihre allumfassende Gültigkeit besitzen, wenn sie durch ein Volk ausgeführt würden, welches säte und erntete und überhaupt sechs Tage in jeder Woche arbeitete.
Diese Notwendigkeit, die Theorie in die Praxis umzusetzen und dadurch sie vollends zu verwirklichen, erfährt auch ihre besondere Betonung bei Maimonides, dort wo er die Prüfsteine beschreibt, die einen Chacham – einen weisen Menschen – ausmachen. Er betont, dass ein Chacham ebenso aufgrund seiner Taten, seiner Gepflogenheiten beim Essen und Trinken, seiner Geschäftsgebaren, seiner Kleidungsweise usw. zu erkennen ist wie aufgrund seines rein theoretischen Wissens (Maimonides, Mischne Tora, Hilchot Deot, Kap. 5). Es ist wesentlich, dass die Theorie mit der Praxis übereinstimmt; sonst können die Unstimmigkeiten zu einer Verdrehung der Werte führen. Von Aristoteles, dem griechischen Philosophen, wird erzählt, er sei einmal bei einem kompromittierenden Vorfall entdeckt worden, wo sein Benehmen Anstoß erregte. Darauf zur Rede gestellt, soll er geantwortet haben: "In diesem Augenblick bin ich nicht Aristoteles."
Die Tora kennt einen solchen Zwiespalt oder Widerspruch nicht, noch erkennt sie ihn an. Um ein Chacham zu sein, muss bei einer solchen Person die Weisheit alle Taten erhellen und beeinflussen – ob dies nun im Klassenzimmer geschieht oder außerhalb der Schule. Wenn nicht, dann geht den Handlungen jede Weisheit ab; im Gegenteil, sie könnten unter den Einfluss ganz anderer Kräfte und Mächte fallen, die gern in die Bresche springen, wenn die Weisheit resigniert.
Der Mensch ist nicht ein unharmonisches Konglomerat von Organen, die da aufs Geradewohl und unabhängig voneinander funktionieren. Wo der Kopf nicht die Füße kontrolliert, da kann es so weit kommen, dass die Füße den Kopf kontrollieren. Wenn die Vernunft die Gelüste nicht reguliert, dann werden die Gelüste den Körper steuern – und es wird alsbald augenfällig sein, dass das Gehirn in Unordnung geraten ist.
Es ist leicht möglich, dass sich eben dies bei den Kundschaftern eingestellt hatte. Sie hatten anfänglich eine ausgezeichnete Theorie. Aber sie waren nicht gewillt, sie in der Praxis auf die Probe zu stellen. Das Ergebnis war, dass die Theorie selbst hinfällig wurde (sie führten G-ttes Willen nicht aus), bis sie um Ende sogar in Verdrehung und Verderbtheit ausartete (sie leugneten die Allmacht G-ttes einfach ab).
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