Als das Volk in der Wüste gezählt wurde, ging man vom Namen der Väter aus. Ist das nicht unfair? Wer wollte diese Kinder in Ägypten unbedingt haben, obwohl die Männer sich sperrten? Wer widersetzte sich dem Dekret des Pharaos und riskierte sein Leben, um diese Kinder zu tragen, zu gebären und zu stillen? Sind die Mütter nicht mehr wichtig, wenn die Kinder gezählt werden?1

Nun, niemand braucht eine Volkszählung, um die Mütter zu identifizieren. Jedes Kind kennt seine Mutter. Sie hat es aufgezogen, gepflegt und geliebt. Die Frage ist: Wer ist der Vater? Wie viele Kinder können diese Frage mit Gewissheit beantworten? Dafür brauchen wir eine Volkszählung.

Familiäre Werte

Es war wichtig für alle, von den Dächern zu rufen, dass jedes jüdische Kind auch seinen Vater mit Sicherheit identifizieren konnteKaum ein Ägypter konnte diese Frage sicher beantworten. Die Ägypterinnen waren moralisch leichtfertig. Selbst Verheiratete wussten nicht, wer die Väter ihrer Kinder waren. Männer zeugten Kinder in mehreren Familien, und Frauen gebaren Kinder verschiedener Väter. Väter lehnten es ab, sich um Kinder zu kümmern, die vielleicht nicht ihre waren, und die Kinder standen den Vätern nicht nahe, weil sie womöglich gar nicht ihre Väter waren. Die ganze Familie zerfiel, und mit ihr zerfielen die Werte.

Als die Juden ein Volk wurden, wollten sie sich von ihren früheren Herren unterscheiden. Die jüdische Familie hielt zusammen. Mütter und Väter setzten Kinder in die Welt. Man brauchte nicht darauf hinzuweisen, wer die Mütter waren. Kinder erkannten ihre Mütter aus einer Meile Entfernung. Aber es war wichtig für alle, von den Dächern zu rufen, dass jedes jüdische Kind auch seinen Vater mit Sicherheit identifizieren konnte. Jüdische Mütter, einerlei, welche Verdienste sie erworben hatten, zogen ihre Kinder nicht allein auf.

Man stelle sich vor: Es gab keine einzige untreue Frau in einem Volk von mehreren Millionen Menschen und keinen einzigen Vater, der seine Kinder nicht mit absolutem Vertrauen umarmen konnte. Das sagt vieles.2

Wissen und verstehen

Diese Erklärung beantwortet zwar die Frage, aber sie genügt dem kritischen Geist nicht. Der Zusammenhalt der Familie ist der Baustein für Nationen, und darum sollte man ihn bei jedem Volk vermuten, auch wenn Ägypten ein schlechtes Beispiel war. Ägypten war gewiss kein moralisches Vorbild für andere Nationen, und es war keine besondere Leistung, die Ägypter an Moral zu übertreffen. Es muss also noch einen anderen Grund gegeben haben, warum jüdische Kinder ihre Väter kannten.

Mütter und Väter erziehen auf ihre Weise. Mütter schenken die aufbauende Liebe, die Vertrauen erzeugt und die Persönlichkeit des Kindes zum Blühen bringt. Väter sind Mentoren, die uns den Weg weisen und uns lehren, Richtig und Falsch zu unterscheiden. Natürlich sind das nur die typischen Merkmale beider Rollen.

Mütter wie Väter müssen in gewissem Umfang alle diese Eigenschaften aufweisen. Beide Elternteile tragen zum wachsenden Moralgefühl des Kindes bei. Mütter lehren uns, nach dem Guten zu streben, es zu begehren und zu hegen. Väter bringen uns bei, moralische Normen einzuhalten, ob es uns gefällt oder nicht. Wenn ein Kind sich auflehnt oder nach dem Grund fragt, erklärt ihm die Mutter geduldig, worum es geht, während der Vater oft streng antwortet: „Weil ich es dir gesagt habe!“

Kinder müssen wissen, dass moralische Normen nicht verhandelbar sindKinder brauchen beides. Sie müssen wissen, dass Neugier normal ist und dass sie Antworten auf ihre Fragen bekommen. Aber sie müssen auch wissen, dass moralische Normen nicht verhandelbar sind. Ein Kind kann nicht erwarten, alles zu verstehen. Selbst Erwachsene kennen nicht den Grund für jede moralische Norm. Darum nennen wir sie Gebote und nicht Philosophien. Auf der tiefsten Ebene halten wir an der Moral nicht deshalb fest, weil wir ihre Bedeutung verstehen, sondern weil wir wissen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Glaube und Vernunft

Dieses Mutter- und Vaterbild spiegelt sich in unserer Beziehung zu G-tt wider. Es gibt Philosophen, und es gibt Gläubige. Beide können die Existenz G-ttes akzeptieren, aber der Eine glaubt daran, während der Andere von ihr logisch überzeugt ist. Die Gewissheit des Gläubigen kann der Philosoph jedoch nicht für sich beanspruchen. Erklärungen beantworten Fragen, aber sie stehen nicht für die Wahrheit. Philosophen stellen Theorien auf, aber sie können keine absolut sicheren Schlüsse ziehen, zumindest nicht die Sicherheit des Gläubigen erreichen. Jedes Argument provoziert ein Gegenargument, jede Theorie eine Gegentheorie.

Das Judentum verlangt beides. Wir wissen um G-ttes Exstenz, und wir glauben an G-tt. Wissen bedeutet Verständnis auf der Grundlage eines Studiums. Wir sollen neugierig sein, Fragen stellen und Antworten suchen. Aber wir sollen auch an G-ttes Existenz glauben. Die Vernunft hat Grenzen, und dort, wo sie uns im Stich lässt, müssen wir als Juden den Sprung wagen.

Wenn alle unsere Fragen beantwortet und unsere Vorbehalte überwunden sind, wird von uns erwartet, von G-ttes Existenz völlig überzeugt zu sein. Die Vernunft kann uns diese Gewissheit nicht geben, sie kann nur Zweifel beseitigen. Überzeugen kann uns allein der Glaube.

Die Väter

Die Volkszählung in der Wüste verkündete den Unterschied zwischen Ägyptern und Juden. Er hatte nichts mit Vernunft zu tun, denn das alte Ägypten war berühmt für seine Philosophie und seine akademischen Errungenschaften. Was den Juden auszeichnete, war seine Gewissheit, die seinem Glauben entsprang.

Was den Juden auszeichnete, war seine Gewissheit, die seinem Glauben entsprangMoral, die auf Vernunft gründet, kann sich ändern. Moral, die auf dem Glauben basiert, ist unveränderlich. Die Ägypter hatten logische Erklärungen für die Qualen, die sie ihren jüdischen Knechten zufügten. Sie waren nicht unmoralisch, sie waren einfach davon überzeugt, dass ihr Verhalten gerechtfertigt war. Die Juden gelobten, anders zu sein. Es genügte ihnen nicht, die Basis ihrer Moral zu verstehen. Wer Jude sein wollte, musste an die jüdische Moral glauben und an die höchste Autorität, der wir diese Moral verdanken.3

Um diese klare Unterscheidung zu treffen, wurden die Juden angewiesen, sich unter Berufung auf ihre Väter zu identifizieren. Die liebevolle Zuwendung unserer Mütter ist nicht das Rückgrat unseres Glaubens. Dafür brauchen wir die klaren Anweisungen unserer Väter.4