Über den Vers in unserem Wochenabschnitt Noach war ein Gerechter in seiner Generation1 gibt es widersprüchliche Interpretationen unserer Meister:2 Laut einer Auslegung wird mit „in seiner Generation“ Noachs besondere Gerechtigkeit betont: Wenn er in seiner abtrünnigen Generation ein Gerechter war, umso mehr wäre er ein Gerechter in einer besseren Generation. Laut einer anderen Auslegung deutet man hier Noachs Schande an: Im Verhältnis zu seiner Generation galt er als Gerechter, doch hätte er zu Zeiten von Awraham gelebt, wäre seine Gerechtigkeit gar nicht aufgefallen.

Diese Widersprüchlichkeit um Noachs Gerechtigkeit scheint merkwürdig. Unsere Meister lehren doch, dass man jeden Menschen stets positiv beurteilen soll. Wenn man den Vers zum Ruhme Noachs auslegen kann, weshalb wird dann noch überhaupt versucht, ihn zu seiner Schande auszulegen? Außerdem sehen wir in unserem Wochenabschnitt,3 dass die Thora es sogar vermeidet, über Tiere schlecht zu reden. Über die unreinen Tiere nämlich, die Noach in die Arche brachte, verwendet sie nicht den Ausdruck „unrein“ sondern schreibt es um in „die nicht reinen Tiere“. Wie passend ist es dann, „in seiner Generation“ zur Schande Noachs zu deuten?!

Anweisung fürs Leben

Diese Regel, dass die Thora es meidet, unschöne Ausdrücke zu verwenden, gilt nur für die Geschichten der Thora. Doch wenn es darum geht eine Halacha zu übermitteln, eine praktische Anweisung fürs Leben, spricht die Thora ganz deutlich: verboten oder erlaubt, gut oder schlecht. Damit will die Thora sicherstellen, dass die Halacha eindeutig verstanden wird und keine Missverständnisse auftauchen.

Nun wird verständlich, weshalb „in seiner Generation“ auch negativ gedeutet wird: Die Thora will hier eine Halacha vermitteln und jegliches Missverständnis vermeiden. Obwohl Noach ein Gerechter war, hatte er auch seine negativen Seiten. Würde Noach nur gerühmt werden, könnte man zu dem Irrtum kommen, dass sein Lebensweg der Ideale war und in jedem Detail nachgeeifert werden müsste. Deshalb wird Noach auch negativ beurteilt – nicht um über ihn zu lästern, sondern um uns darin zu belehren, dass es eine höhere Stufe von Gerechtigkeit gibt, welcher wir nacheifern sollen.

Für andere um Erbarmen bitten

Im Sohar steht geschrieben,4 dass Noach nicht für seine Zeitgenossen betete; Mose hingegen sogar für die Sünder, welche sich vor dem goldenen Kalb niederwarfen, G-tt um Erbarmen bat. Noach dachte nur an seine Rettung und derjenigen, die ihm nahestanden. Er gab seine Zeitgenossen auf. Mose hingegen war sogar bereit, auf seinen Namen in der Thora zu verzichten, sollte G-tt den Sündern nicht vergeben. Für Mose war die Thora sein Leben. Er war bereit, sich selbst aufzugeben, aber den größten Sünder gab er nie auf!

Diese Halacha wollen uns jene Meister beibringen, die „in seiner Generation“ zur Schande Noachs deuten: Man muss zu jeder Zeit und in jedem Zustand für den Anderen G-tt um Erbarmen bitten. Dabei spielt es keine Rolle, wie aussichtslos seine Lage scheint und wie tief er in Sünde gefallen sein mag. Aufgeben darf man ihn nicht! Von Noach dürfen wir nicht lernen, nur an sich zu denken. Von Mose müssen wir lernen, auch an Andere zu denken, durch Gebete und Taten!

Die Generation der Tschuwa

Auch für eine solch abtrünnige Generation, wie zu Noachs Zeiten, bestand die Pflicht um Erbarmen zu bitten; in unserer Generation besteht diese Pflicht umso mehr! Denn wir sind die Generation vor dem Kommen des Maschiach,5 über die Rambam6 schon schrieb: „Am Schluss wird Israel Tschuwa tun und unverzüglich erlöst werden!“7 Deshalb darf man keinen Juden aufgeben, soll jedem Juden bei seinem Weg zu G-tt helfen und muss für jeden Juden um Erbarmen bitten! Und schon allein die Bitte für Erbarmen um einen Juden, wird diesen zur Tschuwa erwecken und somit die Erlösung8 beschleunigen!

(Likutej Sichot, Band 28, Seite 19)