Was ist höherwertig?
Wer hat Vorrang, die Tora oder das jüdische Volk? Ist das Volk einzig dazu da, die Tora zu erfüllen? Oder ist die Tora einzig dazu da, den Reichtum der Seele aufzudecken? Oder sind sie ein unteilbares Ganzes?
Als Moses das Volk unten in der Anbetung des goldenen Kalbes schwelgen sah, hatte er zwei Optionen vor sich. Einerseits die Tora, andererseits sein Volk. Aber er konnte nicht beides haben. Denn hätten die Leute die Tora in jenem Zustand, zu dem sie herabgesunken waren, bekommen, wären sie zerstört worden.
Ohne zu zögern, liess Moses die Tafeln fallen und rettete sein Volk.
Das heißt, dass es irgend etwas Besonderes mit diesen Menschen auf sich hat, das sogar dann präsent ist, wenn sie die schwerste Sünde begehen. Etwas, das sie sogar wertvoller macht als die Tora, als G-ttes innerste Weisheit.
Es schaut also danach aus, dass die Seele größer ist, als die Tora.
Doch, woher wissen wir, dass es so ist? Wie können wir den Wert irgendwelchen menschlichen Lebens kennen? Nur weil uns die Tora diese Geschichte erzählt. Ohne die Tora würden wir um die Größe der Seele und des Volkes nicht wissen.
Also haben wir zwei Seiten der Medaille: Die Seele kann ihre Größe ohne die Tora nicht erkennen. Und die Tora kann nicht bis in ihre Tiefen ergründet werden, bis sie um des Volkes willen zerschmettert wird.
Daher konnte die ultimative Tora, so wie G-tt tatsächlich wollte, dass sie empfangen wird, erst kommen, nachdem Moses sie für sein Volk geopfert hatte. Erst dann kam die Tora, als Raum entstand für Vergebung, für menschlichen Input, für das was jenseits des Buchstabens des Gesetzes liegt. Die essentielle Tora, so wie sie eins ist mit dem Volk, das sie empfängt.
Alles was dem Menschen gegeben wird, kommt in einem endlichen Paket. Gewiss, der Nicht-Wissbare, die Quelle aller Weisheit und allen Segens, ist unendlich. Aber wir sind es nicht. Daher können wir Weisheit und Segen nur Stück für Stück, aufgeteilt in Pakete erhalten.
Sogar die Tafeln, die Moses vom Berg Sinai herab trug, waren definiert und begrenzt. Da war ein begrenztes Set von Gesetzen, nicht mehr und nicht weniger. Hast du ihnen gehorcht, warst du gut. Wenn nicht, warst du schlecht. Und das war es.
Daher sagte G-tt, als er Moses über die zerbrochenen Tafeln trauern sah, zu ihm: „Du hast gut daran getan, die Tafeln zu zerbrechen. Denn nun wirst du eine Tora erhalten, die du weiter ausdehnen magst als den Ozean.“
Mit den zweiten Tafeln kam die Fähigkeit für den menschlichen Verstand die Tora innerhalb des Rahmens der mündlichen Lehre auszudehnen. Ebenso kam die Möglichkeit dazu, dass ein Jude versagt und doch seinen Platz bei G-tt wieder erlangt.
Und so mit jedem Misslingen. In Wahrheit gibt es nur eine Sache die dich weiter vorwärts bringen kann als Erfolg, und das ist Misslingen. Wenn du erfolgreich bist, dann bist du ganz und vollständig. Das ist wunderbar, aber mit Ganzheit kannst du nicht ausbrechen über deine eigene Welt hinaus.
Wenn du versagst, bist du gebrochen. Du schaust auf die Stücke deiner selbst, die da am Boden liegen, und sagst: „Das ist wertlos. Ich muss darüber hinausgehen.“
Jetzt kannst du entfliehen. Du kannst wachsen, um dich dem Unendlichen anzuschliessen. Die Schale ist zerbrochen, die Schale eines Geschöpfes. Nun kannst du entdecken, dass G-tt selbst im Inneren versteckt war. Du entdeckst das Unendliche.
Warum nicht gebrochen bleiben? Gebrochen kannst du die höchsten Höhen erreichen. Wenn du nichts bist, kannst du alles bekommen.
Aber du bist nicht nur geschaffen, um zu erhalten. Du musst auch der wirklichen Welt ins Auge schauen und ihre Chuzpe immer und immer wieder herausfordern. Um das zu tun, brauchst du höchste Ganzheit, als wärest du Adam im Garten Eden vor dem Fall. Du brauchst Ganzheit – und die zweiten Tafeln waren ganz.
Nachdem das Volk Verzeihung und Vergebung für sein Versagen erreicht hatte, wurde Moses aufgefordert, an zweites Set von Tafeln zu bereiten. Sie waren nicht G-ttes Werk, wie die ersten. Vielmehr waren sie die Errungenschaft von menschlichem Werk. Sie wurden verdient durch die Umkehr des Volkes und das hartnäckige Bitten des Moses. Diese blieben ganz.
Beide, die zweiten, ganzen, sowie die ursprünglichen, gebrochenen wurden zusammen in der Bundeslade aufbewahrt. Ebenso liegen im Inneren deines Herzens zwei Sets von Tafeln, eines gebrochen, eines ganz. Denn schließlich, wenn du das Unendliche gefunden hast, wo willst du es hintun? In dein zerbrochenes Gefäß? Es wird dort nicht bleiben. In ein neues, ganzes? Dort wird es nicht hineinpassen.
Also erlaubst du deinem Herzen, sich gebrochen zu fühlen in Bitternis über seine Begrenztheit. Und dabei ist es ganz in der Freude über eine unbegrenzte Seele.
Und solltest du sagen: „Aber das ist unmöglich! Es übersteigt die Fähigkeiten eines Geschöpfes beides zu sein – etwas und nichts gleichzeitig.“
Du hast recht. Es ist unmöglich. Genau das ist der Vorzug des Menschen gegenüber den Engeln: Nur das menschliche Herz kann gebrochen und ganz zugleich sein. Dazu hat G-tt dich geschaffen. Um Himmel und Erde zu vereinigen. Nichts und Dasein. Um das Unmögliche in die Wirklichkeit umzusetzen.
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