Amnesie ist eine schlimme Krankheit. Stellen Sie sich vor, Sie wissen nicht mehr, wer Sie sind. Plötzlich haben Sie keine Familie, keine Lebensgeschichte und keine Identität mehr. Das kann mit einem Menschen, aber auch mit einem Volk geschehen. Im Laufe unserer Geschichte haben wir offenbar manchmal vergessen, wer wir waren und woher wir kamen. Und allzu oft scheinen wir nicht zu wissen, wohin wir gehen.
In den ersten Kapiteln von Leviticus lesen wir den Ausdruck Nefesch ki techeta („Wenn ein Mensch sündigt“). Die Tora beschreibt die einzelnen Opfer, die notwendig sind, um Sünden zu sühnen. Der Sohar, unser kabbalistischer Klassiker, versteht diesen Satz sowohl wörtlich als auch spirituell. Nefesch ist nicht nur eine Person, sondern auch eine Seele, und der Vers enthält eine Frage. Mit anderen Worten, die Tora fragt: Nefesch ki techeta? Also: „Wird eine Seele sündigen?“ Kann eine jüdische Seele, eine jiddische Neschama (ein g-ttlicher Funke) wirklich so weit sinken, dass sie eine niedere Sünde begeht? Wie ist das möglich?
Es ist in der Tat nur möglich, wenn wir vergessen, wer wir sind, wenn wir keinen Kontakt mit unserer wahren spirituellen Identität mehr haben. Dann leiden wir an spiritueller Amnesie.
Leider kommt das vor, und zwar gar nicht so selten, denn wir leben ja in einer säkularen Gesellschaft. Die alten Ghettomauern sind weg und isolieren uns nicht mehr. Wir leben mitten in der großen, weiten Welt mit ihren verführerischen Ablenkungen. Selbst wenn wir gläubig sind, werden wir kulturell assimiliert. Langsam, aber sicher beginnt dann sogar eine Nefesch, eine jüdische Seele, zu vergessen, wer sie ist, und kann sich in Sünden verstricken.
Erinnern Sie sich an den „Weisen“ von Chelm und sein Problem? Er fürchtete, er werde im öffentlichen Badehaus, wo alle unbekleidet waren, vergessen, wer er war. Ohne seine eigene Kleidung, die ihn von anderen unterschied, würde er womöglich eine Identitätskrise erleiden. Aber er hatte eine Idee. Er band sich einen roten Faden um eine große Zehe, so dass er sich sogar im Badehaus von allen anderen unterschied. Doch als er in der Dusche war, lösten das Wasser und die Seife den Faden, und er rutschte von der Zehe. Schlimmer noch: Der Faden schwamm in die nächste Kabine und wickelte sich um die große Zehe des Mannes, der dort duschte.
Plötzlich entdeckte unser Genie, dass sein Faden weg war. Er geriet in Panik. Das war eine schwere Identitätskrise. Dann sah er, dass der Mann nebenan den roten Faden trug. Er rannte zu ihm und rief: „Ich weiß, wer du bist, aber wer bin ich?“
Wer sind Sie? Sie sind ein Jude! Sie sind ein Sohn Awrahams, Jizchaks und Jaakows, eine Tochter Saras, Rebekkas, Rachels und Leas. Sie gehören zum „Königreich der Priester und des heiligen Volkes“. Sie wurden aus Ägypten befreit und standen am Sinai. Sie haben zahllose Angriffe auf Ihr Leben und Ihren Glauben hinter sich. Sie sind aus der Asche von Auschwitz gestiegen und haben weitergelebt. Wie können Sie also fragen: „Wer bin ich?“ Das ist ein schwerer Fall von nationaler Amnesie!
Der heilige Sohar erinnert uns daran, dass wir nicht nur „ein Mensch, der sündigt“ sind. Wir sind auch eine Seele – und „wird eine Seele sündigen?“ Eine Seele ist ihrer Definition nach Teil des G-ttlichen. Und für die g-ttliche Seele in uns ist es völlig undenkbar, sich von ihrer Quelle zu entfernen.
Wie sonst könnten wir erklären, dass die Juden in der ehemaligen Sowjetunion nach 70 Jahren atheistischem Kommunismus heute den Glauben ihrer Ahnen voller Eifer leben? Oder dass amerikanische Juden jeden Alters nach Jahren der Apathie verzweifelt die Spiritualität suchen? Oder dass die Wiedergeburt des jüdischen Lebens auf der ganzen Welt eine Realität ist? Ja, dort draußen gibt es gute Menschen, die Funken anzünden und damit einen starken Glauben entzünden. Aber die Funken würden nicht überleben, wenn es nicht in jeder jüdischen Seele einen brennenden Docht gäbe, den nichts und niemand löschen kann.
Wenn Sie also jemals Zweifel daran haben, wer Sie sind, denken Sie an den Sohar. Sie sind eine Seele. Und eine Seele stirbt nie.
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