Der Chassidismus lehrt viel über die dualen, widerstreitenden Kräfte in uns. Einerseits gibt es die menschliche Seele, die instinktiv und praktisch handelt und unbedingt überleben will. Andererseits gibt es die g-ttliche, transzendente Seele, ohne persönliches Interesse und bestrebt, G-ttes Willen zu erfüllen.
Obwohl die Interessen sich oft überschneiden (das meiste, was gut für das Individuum ist, ist auch gut für G-tt), duldet die chassidische Lehre keine Koexistenz unter dem Motto „leben und leben lassen“. Es genügt nicht, menschlich oder sogar human zu sein. Wir sind „nicht nur Menschen“, wir sind teilweise g-ttlich, und unserem unendlichen Aspekt genügt es nicht, einigermaßen gut zu sein. Wir müssen die vorprogrammierte natürliche Freundlichkeit des Menschen übertreffen. Wir müssen Werte hinzufügen, die über unsere Natur hinausgehen. Wir müssen g-ttlich sein, nicht irdisch.
Ein Tier hat keine Wahl, es macht keine Fehler und „tut“ im Grunde nichts. Löwen fressen Zebras, und Waschbären durchwühlen Abfälle. Wir mögen uns über Tiere ärgern, aber wir können ihnen nicht böse sein – sie tun, was sie eben tun. Wir dürfen keine Waschbären sein. Wir dürfen nie damit zufrieden sein zu tun, worauf wir programmiert sind.
Gewiss, wir haben oft gute und aufrechte Neigungen. Aber wenn es sich nur um unsere angeborenen Tendenzen handelt, haben wir nichts „getan“. Gras wächst, und Engel loben G-tt, weil sie keine andere Wahl haben – sie wurden so geschaffen. Wir müssen mehr tun, sehr viel mehr. Es ist zu wenig, wenn wir das Hauptkapital, unsere angeborenen Fähigkeiten, im natürlichen Tempo vermehren. Dadurch rechtfertigen wir nicht das Risiko, das G-tt einging, als er uns einen Teil von sich selbst einpflanzte.
Das Buch Levitikus beginnt mit den Opfergeboten. G-tt verlangt, dass wir ihm unser Tier überlassen – unsere niederen Triebe –, dass wir bewusst leben und uns bemühen, dem Unvermeidlichen einen Schritt voraus zu sein. Dies ist eine persönliche Botschaft in den Opferriten: „Ein Mann, der aus eurer Mitte G-tt opfert ...“ Das ist mehr als das Überwinden schlechter Gewohnheiten; es bedeutet, mehr zu tun, als man „vernünftigerweise“ erwarten kann; es bedeutet, uns auf unsere g-ttliche, unendlich produktive Seite einzustimmen.
Awoda (Dienen), eine der Säulen, auf denen die Welt ruht (Pirke Awot 1:1), schließt die Opferriten und ihre persönliche Parallele ein: die Pflicht, über die Intuition hinauszugehen.
Wenn ein notorischer Versager plötzlich Erfolg hat, wenn Vater und Sohn sich nach dreißig Jahren der Entfremdung versöhnen, dann haben sie etwas Unvorhersehbares erreicht – sie haben ihr inneres Tier, ihre alten Neigungen G-tt geopfert. Sie erleben ein Wunder, sie dienen G-tt, nicht mehr ihrem Selbsterhaltungstrieb, sie sind frei. Eigentlich hätten sie immer wieder scheitern sollen; doch nun sind sie über das Normale hinausgewachsen und haben Zeugnis für G-ttes Gegenwart in der Welt abgelegt.
2, 4, 6 muss nicht heißen, dass 8 folgt. Wir können erreichen, was wir nicht einmal erträumt haben. Wenn wir bisher wenig geleistet haben, können wir in Zukunft viel leisten.
Wir brauchen nicht „nur Menschen“ zu sein, keine langweiligen Roboter, die bis ans Ende ihres Lebens die gleichen Verhaltensmuster beibehalten. Wir können unser Verhalten ändern, wenn wir die tierischen Triebe aufgeben, denen wir so treu folgen. Wir müssen sie auf dem Altar opfern und mit ihrem Rauch hinauf zum Himmel steigen. Dort draußen, jenseits des Bekannten, Bequemen und Vertrauten, fürchten wir uns. Es ist immer einfacher, beim Alten zu bleiben. Aber gerade „dort draußen“ können wir neue Werte schaffen und eine Wohnung für G-tt bauen.
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