Gehen Sie mit jedem moralischen Problem zu Ihrem Rabbi? Müssen Sie sich die Tora erklären lassen, wenn jemand Ihnen einen Tipp gibt, wie Sie das Finanzamt beschwindeln können? Ist Ihnen unklar, ob Sie Buße tun müssen, wenn Sie ein Schabbatgebot verletzt oder Ihre Mutter angeschrieen haben?
Wenn Sie im Religinsunterricht aufgepasst haben, wissen Sie im Großen und Ganzen, was von Ihnen erwartet wird, auch ohne der Synagoge eine E-Mail zu schicken. Es ist kein geschichtlicher Zufall und kein Versehen, dass Juden ihre Rabbiner anders behandeln als andere Religionen ihre Geistlichen. Viele Geistliche gelten als unfehlbar oder stehen G–tt zumindest viel näher als ihre Gemeindemitglieder.
Im Judentum sind die Rabbiner zwar geschulte und wertvolle Ratgeber, aber wir sind nicht auf sie angewiesen, wenn wir mit G-tt reden oder ihn um Weisheit und Rat bitten wollen. Selbst Mosche, der am meisten verehrte Weise in unserer langen Geschichte, machte sich eines falschen Urteils schuldig und durfte deshalb nicht ins Gelobte Land. Und sogar er konnte von anderen lernen, wie Pinchas, der neue Wochenabschnitt, zeigt.
Simri, ein Fürst des Stammes Schimon, verstieß offen gegen G–ttes Moralgesetze. Mosche, Aharon und die anderen Ältesten waren wie gelähmt. Warum? Das sagt die Tora nicht. Vielleicht hielten sie Simri für einen frommen Mann und wussten daher nicht, wie sie auf seine Unmoral reagieren sollten. Oder vielleicht dachten sie, G-tt werde Simri selbst bestrafen (so etwas war ja schon vorgekommen). Also blieb Simris Sünde ungesühnt, bis Pinchas, ein junger, weniger gelehrter Mann, ihn bestrafte. Seine Tat trug ihm den Respekt Mosches ein, und G–tt schloss mit ihm einen ewigen Bund der Priesterschaft.
Warum unterrichten wir schon kleine Kinder in der Tora, sobald sie etwas verstehen können? Warum erzählen wir an Pessach die Geschichte von den vier Söhnen? Weil das Judentum glaubt, dass wir die Mizwot schon in sehr jungen Jahren verstehen können und dass die Tora einerseits einfach ist (man kann sie erlernen, während man auf einem Bein steht), andererseits so komplex, dass wir ein Leben lang mit ihr wachsen können. Wann immer wir die Tora öffnen, enthüllten ihre vielen Ebenen etwas Neues, einerlei wie oft wir einen Abschnitt schon gelesen haben.
Es hört sich sonderbar an – aber ein Zehnjähriger kann die Tora verstehen, und ein Achtzigjähriger kann in ihrer Aura immer noch ein besserer Mensch werden. Das ist ein Rätsel und ein Wunder, ein Geschenk G–ttes. Sie müssen also nicht jedes Mal Ihren Rabbi um Rat fragen, wenn Sie in Versuchung geraten – denn Sie wissen, was richtig ist und was falsch ist. Sie können handeln wie Pinchas und das Böse bekämpfen, wenn Sie es sehen.
Warum sollen wir dann studieren? Weil wir wie Mosche immer etwas zu lernen haben. Seien Sie also ein Rabbi. Belehren Sie sich selbst.
Diskutieren Sie mit