Sie sind ein guter Mensch.
Sie schreien Ihre Kinder nicht an, Sie schlagen Ihre Frau nicht. Sie nehmen anderen nichts weg. Sie zahlen ehrlich Ihre Steuern. Sie sind gut zu Tieren. Sie tun Ihre Arbeit und halten Ihr Haus sauber. Sie kümmern sich um Ihre eigenen Angelegenheiten.
Was könnte daran falsch sein? Die Antwort kommt sogleich.
Kedoschim, der neue Wochenabschnitt, gibt Anweisungen für die Pflege von Obstbäumen. Drei Jahre lang dürfen wir die Früchte nicht essen. Die Ernte des vierten Jahres ist “heilig” und muß nach Jerusalem gebracht und dort verzehrt werden. Erst im fünften Jahr “dürft ihr seine Früchte essen, damit er seine Verheißung um so reichlicher erfülle”.
Der Baal Schem Tow erklärte den Unterschied zwischen den “heiligen” Früchten des vierten Jahres und der reichen Ernte des fünften Jahres mit folgender Geschichte. Er reiste inkognito durch jüdische Gemeinden in Karpatien und traf einen großen Gelehrten, der fünfzig Jahre lang einsam gelebt und die Tora studiert hatte.
Dennoch kritisierte der Baal Schem Tow den alten Mann, weil er G-tt zu wenig gebe. Der Alte war überrascht, doch der Baal Schem Tow erklärte: G–tt kann zwar unter uns wohnen, wenn wir ihm gehorchen, aber es ist auch unsere Pflicht, die Früchte dieses Gehorsams zu genießen: unsere Kinder, unsere Gesundheit, unser Essen. Darum müssen wir mitten in dieser Welt leben und dürfen uns nicht nur mit Spiritualität befassen, und darum sind die “heiligen” Früchte nur die Vorläufer der reichen Ernte des fünften Jahres – das eine bringt das andere hervor.
Jetzt können wir also die versprochene Antwort geben: Wir sind nicht “gut”, wenn wir nichts weiter tun, als das Böse zu meiden. Das ist zu passiv. Wir müssen an diesem Leben aktiv teilnehmen, damit wir uns unserer Verantwortung gegenüber anderen bewußt werden. Denken Sie daran, daß die Gebote uns nicht nur sagen, was wir nicht tun dürfen, sondern auch, was wir tun sollen.
Es geht nicht nur um Tikkun Olam – die “Heilung der Welt” -, sondern auch um die Freude an den Früchten unserer Arbeit. Genießen wir sie!
Diskutieren Sie mit