Also, dies ist das Problem: Wir sollen unsere Nächsten lieben, sie also so akzeptieren, wie sie sind (das ist doch „Liebe“, oder nicht?). Aber können und sollen wir unsere Mitmenschen wirklich so akzeptieren, wie sie sind?
Sollen wir unterernährte Kinder, drogensüchtige Jugendliche, selbstmordgefährdete Ehepartner oder eifernde Freunde so akzeptieren, wie sie sind? Wenn einem Menschen, den wir lieben, etwas fehlt - Essen, Geld, Wissen, Gesundheit, Moral oder Seelenfrieden -, müssen wir dann nicht alles tun, um dem Mangel abzuhelfen, einerlei, ob er es will oder nicht?
Liebe ist widersprüchlich. Um einen Menschen wirklich zu lieben, müssen wir ihn respektieren und unterstützen. Wenn wir ihn nicht so akzeptieren, wie er ist, respektieren wir ihn nicht. Dann lieben wir nicht ihn, sondern das, was wir aus ihm machen wollen. Aber Liebe bedeutet auch Fürsorge und den Willen, für den anderen das Beste zu tun. Leider sind nur sehr, sehr wenige Menschen so gut, wie sie sein könnten, und darum dürfen wir sie nicht so akzeptieren, wie sie sind, sondern müssen daran glauben, dass sie besser werden können, und ihnen dabei helfen.
Sie können einen Menschen respektieren und für ihn da sein. Sie können ihn so akzeptieren, wie er ist. Aber Sie sollen ihn nicht so akzeptieren, wie er ist. Nur — beides zugleich geht nicht. Liebe ist großartig, aber praktisch unmöglich.
Trotzdem lieben Sie sich selbst. Sie kennen Ihre Fehler, in gewissem Sinne besser als jeder andere. Sie wollen besser werden, aber Sie verachten sich nicht, weil Sie es noch nicht geschafft haben. Sie respektieren sich selbst und sorgen für sich. Sie akzeptieren sich so, wie Sie sind, und bemühen sich dennoch unermüdlich, besser zu werden. Sie lieben sich selbst — wahrhaft und vollständig, in jedem Sinne des Wortes.
Dass eine solche Liebe paradox ist, bedeutet nichts. Es mag unmöglich sein, zwei widersprüchliche Dinge gleichzeitig zu tun; aber Milliarden von Menschen – auch Sie – tun genau das. Sie lieben sich selbst, einerlei, ob diese Liebe sinnvoll ist oder nicht, und ohne an die Widersprüchlichkeit dieser Liebe zu denken.
Darum sagt die Tora: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Wenn Sie Ihren Nächsten nicht lieben können, wenn Sie ihn nicht respektieren und ihm helfen können, wenn Sie sich nicht über seine Fehler Sorgen machen und sie gleichzeitig beiseite schieben können, dann sollten Sie eine Weile darüber nachdenken, wie Sie sich selbst lieben.
Dann können Sie Ihren Nächsten so lieben wie sich selbst.
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