Ein 93-jähriger Mann liegt auf seinem Sterbebett. Plötzlich duftet es in seinem Zimmer verführerisch. Er schnuppert und merkt, dass es Kekse mit Schokosplittern sind, nach einem vorzüglichen Rezept seiner Frau. Die isst er am liebsten! Mühsam steht er auf, hält sich unter Schmerzen am Geländer fest und geht die Treppe hinunter in die Küche. Dort hält er sich am Türrahmen und an einem Stuhl fest, und endlich erreicht er den Tisch, wo die Leckerbissen liegen.

Er will einen Keks in den Mund stecken — da hört er einen Schrei. Seine Frau hat ihn entdeckt. „Michael! Was machst du? Die sind für die Schiwa!“ Anstatt Mitleid mit ihrem kranken Mann zu haben, denkt sie nur an die Gäste. Sie ist eben auch nur ein Mensch, der Fehler macht. Ist das eine so schwere Sünde?


Diese Woche beginnen wir mit dem Buch Levitikus, mit Wajikra, dem Abschnitt, dem das Buch seinen Namen verdankt. Der Bericht über den Exodus wird mit Anweisungen für die Priester im Heiligtum fortgesetzt. Außerdem enthält das Kapitel viele Gebote über das Opfern am Altar als Buße für Sünden. Von Sünden ist oft die Rede, aber in verschiedenem Zusammenhang.

Die Tora sagt: „Wenn er sündigt ...“, dann folgt meist eine Sündenliste. Wenn sie jedoch in Wajikra sagt: „Sollte er aus Irrtum sündigen ...“, steht dieser Satz in der Regel allein.

Wie sündigen wir? Man kann Sünden in zwei große Gruppen einteilen. Die erste enthält vorsätzlich begangene Sünden: Wir wissen, dass etwas falsch ist, entweder seit langem oder kurz vor der Tat. Wie wissen, dass wir die Grenze zum Bösen überschreiten. Dann gibt es noch „Sünden aus Irrtum“, wie die Tora es nennt. Hoppla, ich habe gar nicht nachgedacht, sondern instinktiv gehandelt. Ich habe mein Tun nicht vorher abgewogen.

Diese Unterscheidung wird in Wajikra nicht wörtlich getroffen, aber sie ist offenkundig. Welchen Sinn hätten sonst die Worte „Sollte er aus Irrtum sündigen“? Wäre das Wort „Sünde“ nicht genug? Das ist wichtig, wenn wir Sünden bereuen. Bei Sünden aus Irrtum können wir uns auf unser Menschsein berufen, auf den ständigen Kampf des Fleisches mit dem Geist. Vielleicht müssen wir deshalb zur Strafe auf dem Altar opfern und werden nicht härter bestraft. Aber wenn wir bewusst sündigen, ist das schlimmer, und wir müssen genauer über unser Tun nachdenken.

Was haben Sie diese Woche getan? War es nur eine spontane Reaktion auf jemanden, der nach Keksen griff? Oder wussten Sie, dass Sie etwas nicht tun durften — und taten es trotzdem?