Diese Woche beginnen wir wieder mit den “Abenteuern” Moses und des jüdischen Volkes nach dem Auszug aus Ägypten. Da dies der Schabbat vor dem Feiertag von Schawuot ist, muss dieser Wochenabschnitt eine Nachricht beinhalten, die uns helfen wird, die volle Bedeutung dieses wunderbaren Feiertages, an dem wir die Tora empfingen, zu erfahren.

Aber es ist kaum eine Verbindung zu sehen; die Tora ist praktisch, relevant und lebendig, wohingegen der Abschnitt dieser Woche das ganze Gegenteil zu sein scheint. Er enthält keine praktischen Gebote, listet Details über eine Zählung von Menschen auf, die über 3.300 Jahre zurückliegt und enthält wenig Handlung. Um dies zu verstehen, hier eine Geschichte.


Das späte 17. Jahrhundert war eine schwierige Zeit für das Judentum; es kämpfte eine verzweifelten Kampf gegen die Aufklärungsbewegung. Unzählige Juden wandten sich von der ernsten, “schwarz-auf weißen” Welt der Tora ab, hin zu der farbenfrohen, frischen und pulsierenden neuen Welt der Kunst, Philosophie und uneingeschränkten Freude in Frankreich und Deutschland.

Damals entschied eine der herausragenden Figuren des religiösen Lebens, Rabbi Eliahu von Wilna - der Wilnaer Gaon - dass er handeln musste. Er wählte, zusammen mit einigen Ältesten der Gemeinde, zehn seiner besten und reifsten Schülern aus, um die Universitäten und Salons von Berlin zu besuchen, dort die neuen Ideen aufzunehmen um diese dann zu nutzen, um das Judentum zu stärken und diese heimtückische Kraft ein für allemal zu besiegen. Anderen Quellen zufolge, war die Zahl der Schüler noch viel größer. Es war ein gewagter und gefährlicher Schritt, doch alle waren gewiss, dass die Kraft der heiligen Tora G-ttes ihren Erfolg garantieren würde.

Aber seine Schüler unterschätzten den Gegner und - bis auf zwei – wurden sie so sehr in den Bann des neuen, freien Geistes, dass sie ihren Widerstand aufgaben und vom Judentum abfielen. Die Ausnahmen waren Rabbi Pinchas (der später das Buch „Sefer HaBrit“ schrieb) und Rabbi Mosche Mizlisch, der ein treuer Chassid von Rabbi Schneur Salman von Chabad wurde. Nebenbei gesagt hatte die Aufklärungsbewegung recht wenig Erfolg unter den Chassidim.

Nichts ist über das Schicksal der anderen bekannt, mit Ausnahme einer Person. Sein Name war Rabbi Schlomo Faigen. Die Erfahrung in Berlin erweckte in ihm ein Verlangen ebenfalls das Judentum zu verlassen, aber irgendetwas in ihm drängte darauf, ihm noch eine Chance zu geben. Immerhin war er ein ausgezeichneter talmudischer Gelehrter und hatte einst eine strahlende Zukunft in der orthodoxen Welt vor sich gesehen.

So befand er sich in einer Art von Schwebezustand. Rabbi Schlomo verdiente seinen Lebensunterhalt, indem er in Leipzig einkaufte und woanders verkaufte. Schließlich zog es ihn auf seinen Reisen zum Rebben von Chabad in Lioshno. Hier, im Gegensatz zur kalten, akademischen Atmosphäre von Wilna, war der Geist warm und lebendig.

Der Rebbe hielt tiefgehende und detaillierte Vorträge vor seinen Anhänger und Chassidim, Gelehrte und G-ttesfürchtige Juden. Gelegentlich fanden “Farbrengen” statt. Man sass zusammen, trank Wodka, sang chassidische 'Niggunim' und sprach von der Liebe zur Tora, zu G-tt und zu jedem Juden. Schlomo fühlte, dass sich seine Seele für eine neue Welt öffnete, eine Welt der Freude und der Bedeutung, schließlich hatte er die Kraft dem Drängen zu widerstehen. Tatsächlich rief ihn der Rebbe eines Tages in sein Büro und betraute ihm eine Aufgabe.

“Schlomo, du bist ein Geschäftsmann, ist das richtig? Gut, auf deinem Weg nach Leipzig kehre bitte in der Stadt Karlin ein und besuche dort den großen Rabbi Schlomo für mich.” So kam es, dass Rabbi Schlomo plötzlich zu einer Geschäftsreise aufbrach um Geld zu verdienen. Er packte seine Taschen, bekam den Segen des Rebbe und hielt auf dem Weg, um den Karliner Rebbe zu sehen.

Er kam in die Karliner Synagoge, teilte einem der dort anwesenden Chassidim die Anweisung des Chabad-Rebben mit, woraufhin er einen Stuhl in der Halle nahe der Tür des Büros angeboten bekam. Er öffnete das Buch der Psalmen und begann zu lesen.

Plötzlich ereignete sich etwas sehr ungewöhnliches. Im Büro des Rebbe hörte er Schritte. Stühle wurden zur Seite gerückt und Dinge fielen zu Boden. Jemand ging in einer merkwürdigen Art umher. Plötzlich öffnete sich die Tür, es war der Rebbe selbst. Er sah den jungen Mann eindringlich mit großen Augen an und schüttelte langsam seinen Kopf auf und ab und sagte, “Vielleicht existiert G-tt trotz alldem?”

Er sah ihn noch einige weitere Sekunden an, zog plötzlich seinen Kopf zurück und schlug die Tür hinter sich zu und das Gleiche passierte erneut. Wieder dasselbe eigentümliche Verhalten, wieder öffnete sich die Tür, der Rebbe blickte ihn eindringlich an und sagte leise: “Vielleicht ist es wahr? Vielleicht ist G-tt dort?”

Als wenn dies noch nicht genug gewesen wäre, wiederholte sich die Szene ein drittes Mal. “Vielleicht existiert G-tt trotz alldem?”

Der junge Mann begriff nicht was passierte, aber er verstand, dass es hier nichts mehr für ihn zu tun gab. Er stand auf, ging und hatte den Zwischenfall bald vergessen. Ein paar Wochen später nachdem Schlomo zurückgekehrt war, erklärte der Rebbe eines Abends seinen Schülern einige verborgene Aspekte des Händewaschens vor dem Essen. Er bemerkte ein eigenartiges, verächtliches Lächeln auf den Lippen des jungen Schlomo bemerkte und sagte, “Ein Wurm nagt an seiner Seele.”

Wenige Tage später verließ Schlomo plötzlich sowohl den Rebben, als auch das Judentum. Jahre vergingen. Rabbi Schneur Salman ging dahin, während er vor den herannahenden Napoleonischen Truppen floh und wurde in der Stadt Haditch begraben. Schlomo wechselte seine Religion und stieg im öffentlichen Leben auf, bis er zu einem hohen Minister der zaristischen Regierung in St. Petersburg ernannt wurde.

Wie das Schicksal es mit sich bringt, entschied der Zar eine neue Verbindungsstraße zu bauen, die, wie die Chassidim herausfanden, durch die Ruhestätte des Rebben führen sollte. Was konnten sie tun? Eine Verlegung kam nicht in Frage. Die Meinung des Zaren zu ändern war ebenso undenkbar. Ihre einzige Chance war es, sich an den Verkehrsminister zu wenden.

Aber zu ihrer Bestürzung fanden sie heraus, dass der Verkehrsminister niemand anderes war als ... Schlomo der Apostat, der sich nun Stephan nannte! Die Chancen lagen vielleicht bei eins zu einer Million, dass er ihnen helfen würde ... aber er war der einzige Strohhalm an den man sich klammern konnte.

Rabbi Mosche Valinker, der zu früheren Zeiten mit Schlomo befreundet gewesen war, wurde gewählt und wenige Tage später saß er in einem Warteraum außerhalb des Minister Büros. Sein Name wurde aufgerufen. Er wurde zum Büro des Ministers geführt. Der Minister saß elegant gekleidet hinter seinem Schreibtisch, mit gut rasiertem und wohl gepflegtem Schnurrbart. “Was möchten Sie?” - fragte er ganz im offiziellen Ton.

Reb Mosche neigte sich nach vorn und erzählte die Geschichte vom Ableben des Rebbe und das Problem der vorgesehenen Straße. “Aha!”, sagte der Minister, “Ja, ich verstehe. Sie möchten, dass ich die Straße umleite, nicht wahr? Da gibt es etwas, dass ich auch von Ihnen möchte.”

Er klingelte mit einem kleinen Glöckchen auf seinem Tisch und ein Sekretär trat mit einem Tablett herein, welches mit einem silbernen Deckchen bedeckt war. Reb Mosche befürchtete, dass der Minister ihn auffordern würde, nichtkoscheres Essen zu sich zu nehmen. Aber der Minister wartete bis der Sekretär das Büro wieder verlassen hatte, hob das Deckchen unter dem eine Flasche Wodka, zwei Gläser und zwei Teller mit Hering und Gemüse zum Vorschein kamen.

Er sah Rabbi Mosche herzlich an und sagte, “Die Worte, die ich im Haus des Karliner Rebbe gehört habe - 'Vielleicht existiert G-tt nach alldem?', hallen in meinem Kopf immer noch wieder und wenn ich sie höre, sehne ich mich danach, bei eurem Rebbe zu sein. Bitte, tue mir einen Gefallen. Laß uns ein 'Farbrengen' halten, wie in den alten Tagen.” Dann nahm er eine große Karte heraus, offensichtlich diejenige mit der neuen Straßenführung, löschte die Linie, die durch Haditch ging und zeichnete sie so, dass sie um die Stadt herum führte. Dann füllte er die zwei Gläser und sagte, “Nu, Raw Mosche, mach ein L'Chaim.”


Zurück zu unserer Parascha. Der Abschnitt dieser Woche bezieht sich auf die grundsätzliche Bedeutung und Einmaligkeit nicht nur des jüdischen Volkes als Ganzes (G-tt führte sie aus Ägypten, gab ihnen persönlich die Tora und ernährte sie in der Wüste etc.), sondern für jeden einzelnen Juden persönlich. Dies war der Grund, warum jeder einzelne Jude gezählt wurde.

Alle diese Zahlen, die in der Tora geschrieben stehen, sagen uns, dass der Wert jedes Juden so ewig ist, wie die Tora. Darum enthält diese Parascha keine Gebote, weil diese Verbindung der Juden zu G-tt so grundsätzlich ist, dass sie auch nicht von der Einhaltung der Gebote abhängt. Darum kann auch derjenige, der die schlimmsten Fehler begangen hat, seine Fehler durch Tschuwa – Umkehr - auslöschen. Dies ist es, was der Minister in unserer Geschichte tief in seinem Herzen fühlte und was in seinem Kopf widerhallte.

Es ist die Aufgabe der Juden, die ganze Welt – auch die Wüste - in einem Ort zu verwandeln, in dem sich G-ttliche Gegenwart offenbart. Jeder Jude zählt. Wie der Rambam schreibt; jeder Jude, auch der einfachste hat die Kraft, die ganze Welt zu ändern ...