Am Beginn der Toralesung »Wajigasch« sind wir an jener Stelle angekommen, an der Josefs Brüder mit der Aufforderung konfrontiert werden, ihren jungen Halbbruder Benjamin in Ägypten als Sklaven zurückzulassen – weil dieser vermeintlich einen Becher gestohlen hatte. Nun tritt Jehuda dem Josef (den er zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt hat) entgegen, um ihm zu erklären, dass er das keinesfalls zulassen würde. Letztlich bietet Jehuda sogar an, an Stelle des kleinen Benjamin selbst dazubleiben.

Selbstaufgabe für den kleinen Bruder

An Jehudas Worten ist dabei zu erkennen, dass er dem Josef tatsächlich scharf entgegentritt, nicht mit der unterwürfigen Zurückhaltung, die eigentlich dem Vizekönig von Ägypten gegenüber üblich wäre. Daraus ergibt sich die Frage, woher Jehuda den Mut und die Kraft für sein so entschiedenes Auftreten und den Widerstand nimmt? Ist er als Fremder doch in der wesentlich schwächeren Position als der zweitmächtigste Herr des Landes. Noch dazu sieht er offensichtlich selbst gar keine andere Lösung, als seine eigene Person an Stelle des Benjamin anzubieten! (Dass das ganze nur ein Test ist, den Josef seinen Brüdern auferlegt, kann er zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht erkennen.)

Diese Kraft, bis hin zur Selbstaufgabe gegenüber einem scheinbar völlig übermächtigen Gegner, für das Wohl des Benjamin einzutreten, kam dem Jehuda dadurch, dass Benjamin ihm in besonderer Weise anvertraut war. Bevor die ganze Gruppe nach Ägypten aufbrach, hatte Jehuda die Verantwortung für das Wohl Benjamins übernommen, und hatte versprochen, ihn heil wieder zurückzubringen. Benjamin war damit nicht ein beliebiges Mitglied der Gruppe, sondern eines, für das Jehuda ganz speziell Sorge zu tragen hatte. Aus dieser besonderen Bindung schöpfte er die Kraft, alles, was er bieten konnte, zur Rettung des Benjamin in die Waagschale zu werfen.

Alle Kräfte sammeln

Der Lubawitscher Rebbe hat darauf hingewiesen, dass wir daraus auch eine allgemeine ethische Lehre ableiten können. So wie Jehuda jenseits jeder menschlichen Logik die Kraft hatte, den gefährdeten Benjamin zu schützen, so sind Eltern in der Lage all ihre Kräfte zu sammeln, wenn es um das Wohl ihrer Kinder geht.

Das biblische Ägypten wird auch als ein Symbol einer besonders am Materiellen orientierten Kultur verstanden, die im völligen Gegensatz zu den Werten des Judentums stand. Auch heute kommt manche Bedrohung für unsere jüdische Jugend ins Haus – wenngleich nicht in der Person eines feindlichen Machthabers, wie es bei Benjamin der Fall war, sondern in Form einer Kultur, die den Werten des Judentums wenig Platz lassen will. Wenn dann Eltern gefordert sind, ihre ganze Kraft zusammenzunehmen, um ihren Kindern trotz allem eine jüdische Erziehung zu geben, so lernen wir aus dem Beispiel Jehudas: Es ist möglich – wenn wir die nötige Entschiedenheit an den Tag legen.