Im Wochenabschnitt Wajigasch lesen wir, wie Josef seine Identität gegenüber seinen Brüdern enthüllt und sie bittet, ihren Vater Jaakow nach Ägypten zu bringen. Die ganze Geschichte von Josef und seinen Brüdern wirft eine nahe liegende Frage auf: Josef war 17, als er in die Sklaverei verkauft wurde. Gewiss, er lebte seit 13 Jahren in Ägypten, aber 17 Jahre sind dennoch eine lange Zeit. Warum also erkannten ihn seine Brüder nicht, obwohl sie so lange mit ihm zusammen gelebt hatten? Raschi erklärt, dass Josef in Ägypten erwachsen geworden sei und nun einen Bart getragen habe. Aber ist das ein ausreichender Grund, ihn nicht zu erkennen?

Um dieses Rätsel zu lösen, müssen wir den spirituellen Unterschied zwischen Josef und seinen Brüdern berücksichtigen. Seine Brüder waren Hirten wie Awraham, Jizchak und Jaakow. Warum wählten sie diesen Beruf? Weil sie beim Hüten der Schafe nicht ständig aktiv sein mussten und nicht von schwierigen persönlichen Beziehungen abgelenkt wurden. Sie verbrachten viel Zeit auf den Feldern und hatten reichlich Muße für die Kontemplation. Dort blieben sie mit dem Spirituellen in Kontakt.

Allerdings wussten die Brüder, dass auch Josef spirituell gesinnt war, sogar mehr als sie. Jaakow hatte sich nicht ohne Grund besonders intensiv um ihn gekümmert. Als sie nun einen Mann trafen, der die gesamte Wirtschaft Ägyptens lenkte, schlossen sie daraus, dass er nicht Josef sein konnte. Josef so beschäftigt mit materiellen Dingen, mit Käufen und Verkäufen? Unmöglich!

In der Tat: Wie konnte das sein? Hatte Josef seine Spiritualität geopfert, um Vizekönig von Ägypten zu werden? Der Chassidismus verneint das. Im Gegenteil – Josef handelte so, weil er spirituell hoch entwickelt war!

Es gibt Menschen, denen das Spirituelle wichtiger ist als das Materielle. Sie betrachten beides als Gegensätze und entscheiden sich für das Spirituelle. Aber es gibt auch einige wenige, deren spirituelle Bewusstheit besonders groß ist. Sie verstehen, dass das G–ttliche auch die materielle Ebene einschließt und dass kein Wesen von G–tt getrennt ist. Das bedeuten die Worte „G–tt ist einer“ im Schma Jisrael. Sie sagen uns nicht nur, dass es lediglich einen G–tt gibt, sondern auch, dass alles mit ihm eins ist.

Auf dieser hohen spirituellen Ebene befand sich Josef. Er sah keinen Grund, sich vom Materiellen abzuwenden, um spirituell zu sein. Da er G–tt voll und ganz ergeben war, war er nie von ihm getrennt, nicht einmal wenn er sich mit weltlichen Dingen befasste. Obwohl er in der Welt aktiv war, konnte nichts seine spirituelle Bewusstheit erschüttern.