Arie war aufgeregt. Sein älterer Bruder Samuel studierte für ein Jahr an der Jeschiwa Gedola in Australien. Nun kam er für einen kurzen Urlaub über die Sommerferien nach Hause. "Ich hoffe, er trägt seinen blauen Wintermantel, so dass ich ihn gleich aus der Menschenmenge heraus erkennen kann", sagte Arie zu seiner Schwester auf dem Weg zum Flughafen.

"Sicher wird er ihn tragen - es schneit draußen", entgegnete Schira.

"Aber Schira, es ist gerade Sommer in Australien. Er wird vielleicht nicht dran gedacht haben, wie kalt es hier derzeit ist!"

Es stellte sich schließlich heraus, dass Samuel seinen blauen Wintermantel doch trug - dies half Arie jedoch nicht viel, er erkannte seinen älteren Bruder dennoch kaum wieder.

"Habe ich mich sehr verändert?" fragte Samuel, seinen Bruder herzlich umarmend. Arie berührte das Gesicht seines Bruders, "Samuel, du siehst so anders aus. Als du von hier weg bist, hattest du kaum Haare am Kinn, nun trägst du bereits einen Vollbart!"

Samuel lachte. "Ach der", sagte er, seinen Bart dabei glatt streichend, "nun, ich denke, das passiert eben, wenn man älter und weiser wird."

"Und wenn man für so lange Zeit von zu Hause weg ist", fügte Schira hinzu, "das erinnert mich übrigens an die Parascha von dieser Woche. Wir lernten gerade in der Schule, dass die Brüder von Josef HaZaddik, als sie vor ihrem Bruder im Palast des Pharao standen, ihn überhaupt nicht wieder erkannten. Josef hingegen erkannte seine Brüder sofort. Raschi erklärt hierzu, dass Josef von seinen Brüdern als Teenager verkauft wurde, doch bei ihrem Wiedersehen trug Josef bereits einen Vollbart, was ihm ein ganz anderes Aussehen verlieh."

"Ein Bart lässt einen Menschen wirklich anders aussehen", stimmte Arie zu. Er dachte einen Augenblick nach: "Es ist dennoch erstaunlich, dass dieser ihn so sehr verändert hat, dass seine Brüder ihn selbst nach vielen Treffen und Gesprächen nicht erkannten. Sogar noch, als Jehuda mit Josef wegen Benjamin stritt, kam ihm nicht der leiseste Verdacht, in Wahrheit mit Josef zu sprechen."

"In Chassidut finden wir eine Erklärung hierfür", sagte Samuel, "schau mal, mich inzwischen mit Bart wiederzuerkennen, war zwar schwierig für dich, doch wusstest du zumindest, dass ich immer noch wie ein Jeschiwa-Student aussehe. Als die Brüder Josefs nach Ägypten kamen und sahen, wie der oberste Verwalter Ägyptens alle bedürftigen Menschen mit Nahrung versorgte sowie sämtliche Geschäfte Ägyptens führte, war es für sie nicht im Entferntesten vorstellbar, dass dies möglicherweise Josef sein könnte. Sie konnten sich Josef vorstellen, wie er sich mit spirituellen Dingen beschäftigte. Sie konnten sich ihn jedoch nicht als Geschäfts- und Staatsmann vorstellen. Deshalb haben sie ihn auch nicht erkannt."

"Josef befand sich indes auf einer höheren Stufe als seine Brüder. Ihr Vater Jakob hatte schließlich sein gesamtes Tora-Wissen an Josef weitergegeben. Dies verhalf Josef letztlich dazu, als Tora-treuer Jude in einem Land zu leben, das von G-tt und Tora spirituell weit entfernt war. Und selbst dann, wenn er mit Handelsgeschäften und Staatsangelegenheiten beschäftigt war, hatte er stets vor Augen, dass die Tora absoluten Vorrang in seinem Leben hat."

G-tt möchte, dass ein Jude sich mit den Angelegenheiten dieser Welt beschäftigt und dadurch die Welt mit G-ttlichkeit erfüllt. Wir sollten uns daher an Josef ein Beispiel nehmen. Denn auch in Zeiten, in denen sich Josef weltlichen Dingen zuwendete, war sein Leben nicht einen Moment lang von G-tt und Tora getrennt.

(Übersetzt aus "Please Tell Me What the Rebbe Said, Vol. I", basierend auf Likutei Sichot, Band 3, Paraschat Wajigasch.)