Ist Isolationismus die einzige Möglichkeit, als frommer Jude zu leben, oder können wir über die Wände des Gettos klettern und trotzdem gläubig bleiben? Darüber diskutieren verschiedene Denkschulen in unserer Gemeinde immer noch. Manche schauen auf jene herab, die darauf bestehen, sich abzusondern, und nennen sie zögerlich und unsicher, was ihre jüdische Identität anbelangt. Warum hätten sie sonst Angst vor der äußeren Welt? Jene dagegen, die im Getto Schutz suchen, behaupten, ein Leben in einer hedonistischen, moralisch verderbten Gesellschaft sei nichts anderes als spiritueller Selbstmord.

Aber es gibt auch Juden, die das Risiko eingehen und davon berichten. Unsere Parscha erzählt die dramatische Episode von Josef und seinen Brüdern. Der Junge, der zunächst als Sklave verkauft wurde, ist Vizekönig von Ägypten geworden. Die Brüder kommen während einer Hungersnot aus Kanaan, um Vorräte zu kaufen. Sie treten dem Vizekönig von Angesicht zu Angesicht gegenüber, merken aber nicht, dass er ihr seit langem vermisster Bruder ist.

„Und Josef erkannte seine Brüder, aber sie erkannten ihn nicht“ (Genesis 42:8). Raschi erklärt: Als sie einander zum letzten Mal gesehen hatten, waren die älteren Brüder erwachsen und bärtig, Josef dagegen noch jung und bartlos. Darum fiel es ihm leichter, sie zu erkennen.

Der Lubawitscher Rebbe deutet die Szene eher als Prediger: Dass die Brüder Josef nicht erkannten, hatte keine körperlichen, sondern spirituelle Gründe. Die Brüder waren Schäfer, und es gehörte zu ihrer spirituellen Lebensweise, allein auf den Weiden zu sein, umgeben von der Natur und ohne die Verlockungen einer Gesellschaft, die ihrem Glauben möglicherweise feindlich gesinnt war. Die Schafe, die sie hüteten, belästigten sie nicht mit religiösen Problemen. Dass Josef ein frommer Sohn Jaakows und der Lebensweise seines Vaters treu geblieben war, obwohl er für die größte Supermacht auf Erden arbeitete, entzog sich ihrem Verständnis. So etwas konnten sie nicht begreifen oder erkennen. Später lesen wir in der Tat, dass selbst Jaakow sehr froh war, als er erfuhr, dass sein Sohn, den er für tot gehalten hatte, nicht nur am Leben, sondern „mein Sohn“, also Jaakows Tradition treu geblieben war.

Zweifellos ist es einfacher, jüdisch zu bleiben, wenn wir allein sind. Ohne Zweifel ist es viel härter und anstrengender, unseren Glauben als Minderheit auszuüben. Niemand will gerne wie ein wunder Daumen herausragen. Insofern ist es durchaus sinnvoll, sich in sein eigenes kleines, bequemes Nest zurückzuziehen. Es sei denn, wir glauben, dass wir für unsere Umgebung verantwortlich sind. Wenn wir glauben, dass G-tt von uns nicht weniger erwartet, als die Welt zu verändern, genügt es nicht, Wasser zu treten. Dann haben wir keine andere Wahl, als hinauszugehen und der Welt gegenüberzutreten, um sie g-ttlicher zu machen.

Alle Söhne Jaakows waren rechtschaffen. Doch Josef war der größte von ihnen. Darum wird er Josef HaZadik genannt – Josef, der Rechtschaffene. Denn es ist leicht, auf dem Feld und im Wald rechtschaffen zu sein, aber schwer, unter den Menschen rechtschaffen zu bleiben, vor allem unter Männern und Frauen, die moralisch verkommen sind wie damals die Ägypter.

Dem ägyptischen Vizekönig entspricht heute in etwa der Präsident oder wenigstens der Außenminister der USA. Stellen Sie sich vor, der Mann in diesem hohen Amt wäre ein frommer, praktizierender Jude. Er erfüllt seine Regierungspflichten und macht seiner Stellung Ehre, und gleichzeitig lebt er als engagierter Jude. Das ist kaum zu glauben – aber Josef schaffte es. Und in diesem Geist erzog er seine Kinder Ephraim und Menasche.

Deshalb ist Josef ein wichtiges Vorbild für unsere Generation. Die meisten von uns leben in einer sozial integrierten Gesellschaft und kommen mit den unterschiedlichsten Leuten zusammen. Wir leben in einer elektronisch vernetzten Welt ohne Mauern. Werden wir würdevoll jüdisch bleiben trotz der Versuchungen einer offenen Gesellschaft? Dies ist die Frage, die Josef beantwortet. Es ist nicht leicht, aber wir können es schaffen.

Einerlei, ob wir leitende Manager oder hohe Diplomaten sind, wir sollten uns vom ägyptischen Vizekönig, dem treuen Sohn des Juden Jaakow, inspirieren lassen.