Ein Mord ist auf einem Feld geschehen. Es gibt keine Zeugen, keine Hintergründe und keine Hinweise auf den Mörder. Damit wäre auch schon der Fall abgeschlossen.
Die Thora allerdings erzählt von einer Prozedur, bevor sie den Fall abschließt. Dabei handelt es sich um das „Kalb der Sühne“. Die Ältesten (Richter) der dem Tatort nächstgelegenen Stadt begeben sich mit einem Kalb zum nächsten Fluss, erdrosseln es dort und verkünden: Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen und unsere Augen nichts gesehen.
Worin liegt der Zusammenhang zwischen den Richtern und dem Mord? Der Talmud lehrt1, dass es keinen unnatürlichen Todesfall gibt ohne eine Sünde im Spiel. Ihrer Sünden wegen starb jene Person. Außerdem gibt es einen Mörder, welcher zur Rechenschaft gezogen werden muss. Doch was hat das Gericht mit dem Mord zu tun?
Die Pflicht der Ältesten
Die Antwort lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Verantwortung! Es gibt zwar nur einen Mörder, doch Verantwortung dafür tragen die Stadtbewohner und sogar die Richter, bis zum Obersten Gericht! Deshalb sind es die Richter, welche verkünden müssen, dass nicht sie die Verantwortung für diesen Mord tragen. Denn ihnen obliegt die Vermittlung und Erziehung zu jüdischen Werten im Volk, damit eine solche Gräueltat nicht passiert. Sollte ihrer Nachlässigkeit wegen dieser Mord begangen worden sein, tragen sie die Verantwortung dafür!
Die Leiche
Auch im Spirituellen gibt es den Begriff des „Totschlags“. Allerdings ist dabei die betroffene Person ihr eigener Totschläger. Durch das Begehen einer Sünde „vergießt der Jude das Blut seiner Seele“, indem er ihr die Lebenskraft für das Heilige nimmt. Zu Beginn erfüllt er noch die Mitzwot, doch ohne Freude. Allmählich aber verliert der Jude jegliches Interesse am Judentum. Und manchmal geht das so weit, bis er sich auf dem „Feld“ vorfindet, dem „Territorium Esaws“ – bis zur völligen Entfremdung von jüdischen Werten.
Wer trägt nun die Schuld für diesen „Mord auf dem Feld“ – doch nur die Person selbst! Ihre Sünden brachten sie zu diesem Fall. Der Jude hätte es nicht soweit kommen lassen dürfen. Er könnte das „Feld“ verlassen und sich in der „Stadt“ (einem jüdischen Umfeld) niederlassen; doch nun hat er sich derartig von seinem Judentum entfernt, dass er auf dem Feld liegt und sich nicht mehr von dort erheben kann. Wie entsetzlich dies auch ist, doch schuld ist er alleine an seinem Elend!
Das Judentum allerdings schließt einen solchen „Mordfall“ nicht so schnell ab. Es ist leicht auf den anderen mit dem Finger zu zeigen, doch das darf auf keinen Fall auf Kosten der eigenen Verantwortung gehen! Das jüdische Volk ist eine Gesamtheit, welche sich aus vielen Individuen bildet. Fehlt es bei dem Einzelnen, fehlt es bei der Gesamtheit. Schon allein um der eigenen Ganzheit willen, sollte jeder für den anderen Verantwortung empfinden!
Der Appell
Es gibt genug Juden, deren eigene Identität ihnen fremd ist oder zumindest nicht sehr am Herzen liegt. Sie befinden sich auf dem Feld und ihre Seele ist erschlagen. Sie müssten nicht in ihrer Lage bleiben, niemand zwingt sie dazu, und wenn sie sich doch dafür entscheiden, ist das ihre Verantwortung.
Das ist richtig, doch das Judentum sucht keine Schuldigen. Es appelliert an all jene, die sich in der „Stadt“ befinden; und dieser Appell wird im Monat Elul umso lauter: Seid euch eurer Verantwortung bewusst, geht auf das Feld und rüttelt eure jüdischen Mitmenschen auf. Erinnert sie daran, dass wir uns im Monat Elul befinden und die Tage des Hohen Gerichts näher rücken. Obgleich der Jude während des Jahres Fehler gemacht hat, ist dennoch G-tt willig ihm gerade im Elul zu vergeben, „wo Er Sich auf dem Feld befindet und jedem ein liebevolles und lächelndes Gesicht zeigt.“2
Nützen Sie diese Gelegenheit! Schließlich könnten wir so alle bis zum Tag des Gerichts in die „Stadt“ zurückkehren und in das Buch der Gerechten eingeschrieben werden!
(Likutej Sichot, Band 24, Seite 129)
Diskutieren Sie mit