Frage?

Worauf beruht der Brauch, dass sich Trauernde beim Tod eines ihrer Lieben ihre Kleider zerreißen?

Antwort!

Grundsätzlich drücken sich im Zerreißen Schmerz und Trauer über den Verlust eines Menschen aus. Die Tora ermutigt und befiehlt sogar, auf diese Art die Trauer auszuleben.

Doch der tiefere Grund liegt darin: Im Judentum wird der Tod als "zweischneidiges Schwert" betrachtet. Wenn wir ein Familienmitglied oder einen Freund verlieren, - G-tt behüte uns davor - so verlieren wir gleichzeitig einen Teil von uns selbst. Diese Tragödie macht die Hinterbliebenen von diesem Moment an zu emotionellen Krüppeln, denn der Schaden ist nicht wieder gut zu machen. Deshalb halten wir eine siebentägige, intensive Trauerperiode (Schiwa) ein, während der sich die Familiemitglieder versammeln und Zeit nehmen, sich über den schmerzlichen Verlust auseinander zu setzen. Freunde und Verwandte, denen immer wieder das unfassbare Ausmaß ihres Verlustes erzählt wird, helfen der Trauerfamilie. Dann folgt das Trauerjahr, in dem dreimal täglich das Kaddisch-Gebet gesprochen wird, um die Seele des Verstorbenen beim Übergang in eine bessere Welt zu unterstützen.

In seinem Schmerz ist der Trauernde davon überzeugt, dass "es nicht wahr ist", von dem so sehr geliebten Menschen wirklich verlassen worden zu sein. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um keine Verneinung, denn die Trauernden haben Recht: Tod ist keine absolute Wirklichkeit! Unsere Seelen haben schon vor unserer Geburt existiert und werden auch nach unserem Tod weiterhin bestehen. Die Seelen derjenigen, die sozusagen "von uns gegangen" sind, bleiben in Wirklichkeit bei uns, - wenigstens während der Schiwa. Wir können sie zwar nicht sehen, aber wir können ihre Gegenwart fühlen. Wir können sie zwar nicht hören, aber wir wissen, dass sie uns hören. An der Oberfläche scheinen wir getrennt zu sein, doch jenseits dieser Scheinwelt sind wir unzertrennlich.

Daher hat dieses Zerreißen eine doppelte Bedeutung: Einerseits anerkennen wir die verzweifelte Lage, in der sich unser Herz im gegebenen Moment befindet. Andererseits wissen wir aber, dass der Körper nichts weiter als ein Kleid ist, das unsere Seele trägt. Tod bedeutet, dieses Kleid auszuziehen. Das Kleid mag wohl zerrissen werden, doch der wesentliche Teil der Person bleibt unversehrt.

Aus unserer weltlichen Sicht ist der Tod eine Tragödie und der Gram der Trauernden Wirklichkeit. Doch beim Zerreißen der Kleider hoffen wir, dass die Trauernden auf die innere Wahrheit aufmerksam werden, indem die Seele ewig weiterlebt und nur das Kleid zerrissen ist.