(Aus einem Briefe des Lubawitscher Rebben an einen Intellektuellen.)

Frage?

Ich weiß mir keine Antworten auf Fragen wie "was ist der Zweck des Lebens?" und "Was bedeutet es, Jude zu sein?". Ich bin mir auch im Unklaren darüber, wieso die Tora wahr ist; und andere grundsätzliche Glaubenslehren machen mir zu schaffen.

Antworten!

1. Es muss einen Zweck geben

Sie schreiben, Sie haben die Universität besucht und ein wissenschaftliches Studium betrieben. Daher ist Ihnen wahrscheinlich die Methode bekannt, mit der man ein schwieriges Problem anpackt. Wenn wir die Richtigkeit der Gesetze und Prinzipien eines wissenschaftlichen Systems beweisen wollen, so beginnen wir damit, diejenigen Teile des Systems zu beweisen, die am ehesten und leichtesten analysierbar und überprüfbar sind. Wenn wir dann, Schritt für Schritt, den größeren Teil des Systems nachgewiesen haben, dann sind wir zu dieser Annahme berechtigt: Nachdem der größere Teil sich als im Einklang mit bestimmten, spezifischen Gesetzen zeigt, muss der restliche Teil ebenso dieser Gesetzmäßigkeit folgen. Der gesunde Menschenverstand berechtigt zu der Vermutung: Wenn ein gewisses Gesetz für den weitaus größeren Teil von Fällen gültig ist, dann muss es auch dort gelten, wo es mit absoluter Sicherheit belegt werden kann.

Wenn wir diese Methode auf das Weltall als ganzes anwenden, so leuchtet die Gesetzmäßigkeit und Ordnung immer mehr ein, die da über der Natur herrscht, einschließlich der toten Materie, bis hinunter zum kleinsten Atom oder zu nach winzigeren Einheiten. Die nukleare Wissenschaft hat eine vordem unvorstellbare Harmonie und Ordnung in den uns heute bekannten einhundert Element eh festgestellt. In einem so harmonisch geordneten Weltall muss sicherlich auch der Mensch einer Ordnung und einem Zwecke unterstehen.

2. Der Schöpfer

Wenn wir noch einen Schritt weitergehen, so ist eine wesentliche Schlussfolgerung unvermeidlich, nämlich: Bei einer so geregelten Weltordnung muss es eine Höhere Autorität geben, die für all dieses verantwortlich ist. Folgende bekannte Analogie liegt auf der Hand: Wenn wir uns gedruckte Bücher ansehen, Hunderte von Seiten lang, die z. B, zusammenhängende Erzählungen oder philosophische Ausführungen enthalten, dann können wir doch nicht – selbst in unseren gewagtesten Phantastereien – annehmen, dass eine Flasche Tinte ausgegossen worden ist und dabei zufällig dieses Buch produziert hat. Noch viel weniger ist die Hypothese zulässig, unser Weltall – mit all seinen unzählbaren Atomen, Molekülen und anderen Teilchen, alle in vollkommener Harmonie und Gesetzmäßigkeit angeordnet – sei durch Zufall entstanden.

Ganz deutlich vielmehr gibt es einen Schöpfer und Architekten, der all die vielfältigen Teile des Universums in vollkommener Einheit und Harmonie anordnet und zusammenfügt, dem System von Gesetzen entsprechend, das er geschaffen hat und überwacht. Ganz offenbar geht diese ganze System über unser Verstehen hinaus, wo doch unser Verstehen – wie unser Dasein überhaupt – nur ein verschwindend kleines Stück in dem kosmischen Gefüge ist, auf keine Art und Weise mit dem Schöpfer selbst vergleichbar. Die Erwartung, dass man den Schöpfer "begreifen" kann, ist einfach unsinnig, und es ist noch weit mehr verfehlt, Seine Existenz nur deswegen abzuleugnen, weil es uns unmöglich ist, Ihn zu begreifen.

3. Die Wahrheit der Tora

Wenn in der Physik, Chemie etc. ein Gesetz aus einer Reihe von Versuchen abgeleitet und durch verschiedene Personen – unter den verschiedensten Zuständen von Druck, Temperatur, Feuchtigkeitsgrad usw. (wodurch das Risiko von Fehlern oder Zufallsergebnissen ausscheidet) – überprüft worden ist, dann wird es schließlich als ein für die Zukunft gültiges Gesetz anerkannt. Diese wissenschaftliche "Regel" gilt ebenfalls in Bezug auf Vorkommnisse und Ereignisse der Vergangenheit. Wo immer ein bestimmtes Ereignis oder Phänomen von vielen Historikern bezeugt und in übereinstimmender Beschreibung berichtet ist, dort kann kein wissenschaftlicher Zweifel darüber bestehen, dass das Ereignis in dieser Form stattgefunden hat.

Solch ein historischer Vorfall war die Offenbarung am Berge Sinai, die doch in identischer Form von Millionen von Menschen bezeugt worden ist – Männer, Frauen und Kinder, Leute aus den verschiedensten Schichten und verschiedenster Herkunft, die selbst Zeugen des Ereignisses waren und es dann getreu ihren Kindern mitteilten, von Generation zu Generation, ununterbrochen bis zum heutigen Tage. Zu keiner Zeit, nicht einmal während der schlimmsten Pogrome und Niedermetzeleien von Juden, gab es weniger als Millionen von Juden, die diese Tradition gewissenhaft aufrecht erhielten. Tatsächlich ist niemals in unserer ganzen Geschichte die Kette der jüdischen Tradition vom Sinai bis heute unterbrochen worden. Das macht aus der Übergabe der Tora das am besten verbürgte aller historischen Ereignisse der Geschichte der Menschheit.

4. Die Daseinsberechtigung des Juden

Damit haben wir denn "wissenschaftlich" bewiesen, dass die Tora, wie wir sie besitzen und schätzen, von G-tt gegeben worden ist.

Die Tora enthält nicht nur das Gesamtprogramm unseres Lebens, sondern ist für alle Zeiten der Schlüssel unserer Existenz, denn sie ist ewig, wie ihr Gesetzgeber ewig ist. Sie ist kein Buch voll von Theorie, Philosophie und Unwahrscheinlichkeiten, sondern ein praktischer Wegweiser für unser tägliches Leben, überall und immer gültig, auch im 20. Jahrhundert. Hier in der Tora, in der schriftlichen und der mündlichen Lehre, ist das Ziel des menschlichen Lebens auf Erden klar angezeigt. Dieses ist, in aller Kürze, dass man der Tora gemäß leben soll, durch die Einhaltung ihrer positiven Gesetze (Mizwot assej) und die Nichtübertretung ihrer Verbote (Mizwot lo-ta’assej).

5. Und wenn man versagt?

Die Tora hat auch Vorsorge für die menschlichen Schwächen getroffen und für die Verlockungen und Versuchungen, denen der Mensch, als ein Geschöpf von Fleisch und Blut, im Leben ausgesetzt ist. Es ist schwierig, beinahe unmöglich, niemals zu versagen. Sollte das vorkommen – so lehrt die Tora –, dann soll man den Mut nicht verlieren, denn es gibt immer noch die Tschuwa, eine Rückkehr zu G-tt und auf den rechten Weg. Nein, gerade ein solches Versagen kann ein Sprungbrett zum Vorwärtskommen, zu neuem spirituellen Fortschritt sein.

Frage?

Nachdem all Ihre Erklärungen bezüglich der Wahrheit der Tora, des Zweckes des Lebens etc. so klar und logisch sind, wie kann man es da begreifen, dass es nur eine verhältnismäßig kleine Anzahl von Juden ist, die Tora und Mizwot befolgt, während Übertreter der Lehre so zahlreich sind?

Antwort!

Die Antwort hierauf ist ebenfalls ganz einfach. Wie die Bibel es ausdrückt (Hiob 19, 26): "Ich sehe G-tt von meinem eigenen Fleische aus." Wenn jemand sein Verhalten und sein Tun überdenkt, besonders im alltäglichen Leben (und nicht gerade zu Zeiten wie den religiösen Festen, da er sich geistig angespornt fühlt), dann leuchtet ihm bald ein, dass ein Grossteil seiner Handlungen durch Wunschregungen und Neigungen motiviert ist, nicht aber durch den Verstand. Das gilt ganz besonders überall dort, wo keine sofortige Vergeltung für schlechte Taten droht. Je weiter entfernt die Gefahr von Sanktionen ist, desto schwächer ist der Einfluss des Verstandes, und desto stärker ist menschliches Verhalten durch Wünsche und Gefühle bestimmt. Dieses ist am ausgeprägtesten der Fall, wo immer die Sanktionen rein abstrakter Natur sind; denn die Furcht vor körperlichen Strafen (z.B. Gefängnis oder Geldbusse) ist immer viel wirkungsvoller als bloße Verwarnungen oder Vorhaltungen im Namen von Sittlichkeit, Gerechtigkeit oder Menschlichkeit.

Hinzu kommt, als weiterer Gesichtspunkt, die menschliche Natur selbst. Wenn jemand der Versuchung verfällt und eine "Sünde" begeht, so kann dies bei ihm zu einer von zwei Reaktionen führen:

Ist er ehrlich und mutig, dann wird er seine Handlung als das, was sie wirklich ist, erkennen – nämlich als ein Versagen, eine Verletzung seiner Willenskraft und den Verrat seines Gewissens. Wenn er so sein Vergehen als ein Zeichen von Charakterschwäche erkennt, wird er sich bemühen, dessen Herr zu werden und es das nächste Mal besser zu machen, und "G-tt zeigt Mitleid und Vergebung für denjenigen, der seinen Fehler eingesteht und sich anschickt, ihn zu beseitigen".

Auf der anderen Seite dagegen steht derjenige, der sich fürchtet, die Wahrheit anzuerkennen und den Folgen seines Versagens ins Gesicht zu sehen. Dieser Mensch findet schnell Entschuldigungen für sich; stets sucht er seine Verfehlungen zu rechtfertigen. Nachdem außerdem "eine Sünde schon die nächste im Gefolge hat", werden sowohl sein Schuldkomplex wie die Notwendigkeit der Rechtfertigung seiner Eigenperson immer beharrlicher und stärker, und dies nicht nur um sein eigenes unruhiges Gewissen zu besänftigen, sondern auch um bei anderen einen guten Eindruck zu machen. "Liebe entschuldigt jegliches Vergehen": dies kann insbesondere für die Selbstliebe gesagt werden. "Bestechung macht die Augen auch des Weisen blind": dies geht speziell bei der Bestechung seiner selbst an, die ja mit der Eitelkeit Hand in Hand geht. So ist er denn mehr und mehr zu seinen eigenen Gunsten voreingenommen; in seiner krummen Denkweise erfindet er eine persönliche Philosophie, ja sogar eine "Weltanschauung", die für ihn nicht nur sein Benehmen zu rechtfertigen scheint sondern in seinen Augen sein Laster geradezu zu einer Tugend macht.

Wir schließen in der Hoffnung, dass die oben angeführten Gesichtspunkte als Ausgangspunkte für Sie dienen können, um über diese Dinge nachzudenken und einzusehen; dass die Welt nicht – sozusagen – nur ein großes Durcheinander ist. Vielmehr hat alles und jedermann seinen Platz und seinen Zweck. Wenn Sie sich von Vorurteilen, von oberflächlichen Einflüssen der Umgebung und dgl. freimachen können, dann sind wir davon überzeugt, dass das oben Gesagte Sie mit G-ttes Hilfe dazu bringen wird, den Ihnen gebührenden Platz und Ihre Lebensaufgabe zu finden.