Die Zeit für das Morgengebet war vorbei, und die Gemeinde strömte aus der Synagoge, um mit ihrem Tagewerk zu beginnen. Nur ein Jude blieb, in Tallit und Tefillin gehüllt und tief in Gedanken versunken. Er hatte noch nicht einmal zu beten begonnen, so sehr plagten ihn seit Monaten die Zweifel. Jetzt, in der tiefsten Niedergeschlagenheit, hervorgerufen von seinen bösen Neigungen, sah er keinen Ausweg mehr. Seine Gedanken wanderten von einer Frage zur nächsten, und er ließ nichts anderes an sich heran. So verging der Morgen wie im Flug, und der Jude versank immer tiefer im selbst geschaffenen Sumpf.

Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter und riss ihn aus seinen Träumen. Er blickte hoch und sah zu seiner Überraschung den Baal Schem Tow (auch Bescht genannt) vor sich stehen. „Glaubst du, du findest Antworten, wenn du an G-ttes Wegen zweifelst? Erinnerst du dich nicht an König Dawids Worte: ‚Denn ich bin unwissend und weiß nichts. In Einfachheit folgte ich dir und bin immer bei dir.‘? Ein Jude muss sich G-tt ganz hingeben und seine Gebote einhalten, einfach deshalb, weil sie von seinem Schöpfer stammen, und nicht aufgrund eigener philosophischer Schlüsse. Nimm zunächst das ‚Joch des Himmels‘ an; dann und nur dann erlangst du die wahre spirituelle Erleuchtung. Dann wirst auch du wie König Dawid erkennen: ‚Ich bin immer bei dir.‘ Halte zuerst die Mizwot ein, die g-ttlichen Anweisungen für das Leben. Dann magst du darüber nachdenken und dich in sie vertiefen, so gut es deine begrenzten Fähigkeiten als Mensch erlauben.“

Der Jude war von dem Worten des Bescht tief betroffen. Sie drangen in sein Herz und reinigten es. „Dies ist mein Rat für dich“, fuhr der Bescht fort. „Schieb deinen Verstand beiseite. Vergiss ihn und handle. Akzeptiere, dass G-tt unser König ist, und dann bemühe dich mit aller Kraft, die Mizwot einzuhalten, ohne lange darüber nachzudenken. Wenn du meinen Rat befolgst, verspreche ich dir, dass du wahre Weisheit und Einsicht erlangst.“

So plötzlich, wie er aufgetaucht war, verschwand der Baal Schem Tow wieder und kehrte nach Medsibosch zurück. Der verdutzte Jude zitterte vom Kopf bis Fuß; aber er verlor keine Zeit und betete mit einer Inbrunst, die er nie zuvor gekannt hatte. Die deprimierenden Gedanken und Zweifel, die ihn monatelang begleitet hatten, waren vergangen. Aber er wunderte sich darüber, dass der Bescht so plötzlich aufgetaucht und verschwunden war. „Woher wusste er so genau, was ich dachte und was mich betrübte?“, frage er sich. „Es muss so sein, wie er sagte: Nicht alles entspricht der menschlichen Logik; es gibt vieles, was wir nicht begreifen – und dazu gehören bestimmt auch die Wege G-ttes.“ Am selben Tag packte der Jude seine Sachen und fuhr nach Medsibosch. Dort wurde er einer der fleißigsten Schüler des Baal Schem Tow.