An einem Freitagnachmittag besuchte der Baal Schem Tow eine Kleinstadt, um dort den heiligen Schabbat zu feiern. Bei seinen normalen Besuchen dort pflegte er bei einem reichen Bürger zu wohnen, der sich über die Ehre freute, den Zadik zu beherbergen. Alle waren enttäuscht, als der Bescht verkündete, er werde diesmal den ganzen Schabbat in der Synagoge verbringen.
Als er dort ankam, betete er lange und weinte dabei viele Tränen. Die ganze Gemeinde schloss sich seinen innigen Gebeten an, und alle weinten, obwohl sie nicht wussten, warum. Der Bescht sprach Psalmen und ermunterte die Gemeinde mitzumachen. Und als der G-ttesdienst sich dem Ende näherte, schickte er die Gemeinde nach Hause, um das Schabbatmahl zu genießen. Danach sollten sie zurückkehren und weiter Psalmen rezitieren.
Am nächsten Morgen tauchte der Bescht vor dem Beten wie üblich in die Mikwa. Als er in die Synagoge zurückkehrte, gab er fröhlich bekannt, er werde nun doch bei seinem alten Gastgeber wohnen. Die Leute waren erleichtert, und eine große Menge versammelte sich vor dem Haus des Reichen und hoffte, den Grund für die Ereignisse des Tages zu erfahren.
Der Baal Schem Tow setzte sich in bester Laune an den Tisch und sang ein Schabbatlied nach dem anderen. Plötzlich trat ein Nichtjude ein. Der Bescht lud ihn ein, am Tisch Platz zu nehmen. „Gebt ihm Wodka“, rief der Bescht, und plötzlich tauchten Gläser und Flaschen auf. Vergnügt leerte der Russe ein Glas nach dem anderen und war bald ziemlich beschwipst. Der Bescht fragte ihn: „Sag mir, was geschehen ist.“
„Vorigen Abend ließ der Poriz (der reiche Landbesitzer) seine Bauern rufen. Er war wütend, weil die Juden sein Getreide nicht kauften, so dass er viel Geld verlor. Er musste das Getreide in Silos lagern, wo es zu verrotten begann. Also beschloss er, die Juden zu bestrafen. Er gab den Leuten zu essen und zu trinken und hetzte sie gegen die Juden auf. Heute Nacht, sagte er, sollten sie die Juden angreifen, nicht nur in der Stadt, sondern überall. Alles, was sie plünderten, würde ihnen gehören.
Plötzlich trat ein Mann ein, und der Poriz erhob sich, um ihn zu begrüßen. Sie umarmten sich wie Brüder, die sich lange nicht gesehen haben, und gingen in einen anderen Raum, wo sie einige Stunden blieben, während die Menge immer mehr trank. Der Gast war kein anderer als der beste Schulfreund des Poriz, den er seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie redeten und tauschten Erinnerungen aus. Der Poriz erzählte seinem Freund von seinem Plan, die Juden zu bestrafen, weil sie sein Geschäft ruinierten. „Wie kannst du so etwas auch nur denken?“, fragte der Freund. „Siehst du nicht, dass die Feinde der Juden dich an der Nase herumführen? Von all deinen Leuten kannst du nur den Juden wirklich trauen. Erinnerst du dich an Mosche, meinen alten Gutsverwalter? Ohne ihn wäre ich mehr als einmal bankrott gewesen!“ So ging das Gespräch weiter, und als sie den Raum verließen, war der Poriz davon überzeugt, dass man den Juden nicht schaden durfte. Jetzt hielt er sie sogar für seine besten Freunde. Er gab den Betrunkenen Geld und schickte sie nach Hause.“
Der Russe dankte dem Bescht für den guten Wodka und ging. Alle im Raum waren verdutzt und warteten auf eine Erklärung. Der Bescht freute sich offensichtlich über den Bericht des Mannes und sagte zu der Menge: „Ich habe in Mesibusch gesehen, dass dieser Gemeinde große Gefahr drohte. Darum wollte ich hier den Schabbat feiern. Wie ihr wisst, hat der Poriz die Getreidepreise so stark erhöht, dass niemand mehr von ihm kaufen will. Deshalb hat er viel Geld verloren, und der Priester und seine Anhänger nutzten die Gelegenheit, ihn gegen die Juden aufzuwiegeln. Der Poriz glaubte, die Juden hätten sich gegen ihn verschworen, und wollte sie deshalb vernichten. Ich wusste, dass nur ein Mensch ihn davon abbringen konnte: sein alter Freund. Der ist aber vor einigen Jahren gestorben. Also war ich gezwungen, ihn auf diese Welt zurückzubringen, um eine schreckliche Tragödie zu verhindern. G-tt sei Dank hatte ich Erfolg.“
Jetzt verstanden die Leute, warum der Bescht so innig gebetet und eine Nacht lang Psalmen gesprochen hatte. Sie waren entsetzt und erleichtert zugleich. Einer fragte den Bescht: „Warum musstet Ihr zu uns kommen, um das Wunder zu bewirken? Ihr hättet es gewiss auch von Mesibusch aus tun und Euch die Reise ersparen können.“ Der Bescht nickte. Dann erklärte er: „Ich musste mit dem Scheitern meiner Bemühungen rechnen. In diesem Fall wollte ich bei meinen Mitjuden sein.“ Die Leute verstanden nun, wie sehr der Bescht sie liebte und dass der Zadik ihrer Generation bereit war, sich für jeden Juden zu opfern.
ב"ה
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