Rabbi Jonasan, der dajan, wohnte in einem Haus, das von einem Garten umgeben war. Am Rande des Gartens, genau vor dem Tor, stand ein gewaltiger Baum, dessen Äste auf das Nachbargrundstück hinüberragten. Zwischen dem Rabbi und dem Nachbarn, einem Römer, bestand ein gutes Verhältnis. Der Mann beklagte sich nie darüber, dass der Baum ihn störte, dass Blätter in seinen Garten fielen oder dass der Baum die Sonne verdeckte.
Einmal kamen zwei Männer zu Rabbi Jonasan, um einen Streit schlichten zu lassen. Es war ein Sommertag, und das Fenster stand weit offen, so dass der Nachbar alles mithören konnte.
“Wir sind Nachbarn”, erklärte einer der Männer. “Zwischen unseren Grundstücken läuft ein Zaun, der uns beiden gehört. Aber dieser Mann hat einen riesigen Baum im Garten, dessen Äste zu mir hinüberragen. Das stört mich sehr. Meine Frau kann dort keine Wäsche aufhängen, weil der Baum Schatten wirft. Unser Kind kann nicht in der Sonne spielen. Ich verlange, dass er die Äste absägt, die zu mir hinüberstehen.”
Rabbi Jonasan hörte zu und sagte: “Kommt morgen wieder. Dann verkünde ich meine Entscheidung.”
Sein Nachbar war neugierig auf diese Entscheidung — denn Rabbi Jonasan besaß ja ebenfalls einen Baum, der zum Grundstück des Römers hinüberragte.
Am nächsten Tag kehrten die beiden Männer zurück. Der Römer stellte sich unter Rabbi Jonasans Fenster, um kein Wort zu versäumen. Der Rabbi begann zu reden: “Zuerst will ich den Fall und das Problem erläutern. Du, Reuben, hast einen großen Baum, dessen Äste zum Anwesen von Schimon hinüberragen. Du, Schimon, verlangst, dass diese Äste abgesägt werden, weil sie dich aus verschiedenen Gründen stören. Nun, die Halacha ist in solchen Fällen ganz klar: Reuben, du musst die Äste absägen. So einfach ist das.”
Als der Römer das hörte, platzte er ins Zimmer. “Und was ist mit Euch, Rabbi? Warum tut Ihr nicht, was Ihr predigt? Warum schneidet Ihr nicht die Äste Eures Baumes ab, bevor Ihr es anderen gebietet?”
Rabbi Jonasan legte ihm eine Hand auf den Arm und sagte: “Gehen wir eine Weile hinaus in den Garten.” Die drei Männer folgten dem Rabbi und fragten sich, was er vorhabe. Und dort stand der große Baum — aber er war nicht mehr symmetrisch, sondern die Hälfte seiner Äste fehlte! “Das musst du tun, Reuben”, sagte der Rabbi. “Schimon soll unter deinem Baum nicht leiden.”
Dann wandte er sich an den Römer. “Du hast zwar nie über den Baum geklagt; aber ich wollte kein Urteil fällen, ohne vorher zu tun, was die Torah verlangt. Erst dann darf ich anderen sagen, was sie tun sollen.”
Der Römer war tief beeindruckt und sagte: “Gesegnet sei der G–tt der Juden, der ihnen Gesetze und Richter gegeben hat, die so gerecht sind!”
ב"ה
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