Vor Hunderten von Jahren gab es keine zuverlässige Post. Der Transport war schwierig, die Kommunikation zwischen entfernten Orten fast unmöglich. Wenn Kinder ihr Heim verließen, um in einer Jeschiwa zu lernen, waren sie oft schon verheiratet und hatten Kinder, bevor ihre Eltern davon erfuhren.

Wie viele andere junge Männer folgte auch Schabtai Cohen dem Rat unserer Weisen: „Geht ins Exil an einen Ort der Tora.“ Aber es war schmerzlich, seine verwitwete Mutter und seine Schwester zu verlassen und in ein fremdes Land zu gehen. Trotz ihres Kummers segnete Schabtais Mutter ihren Erstgeborenen bei dessen Abreise. Sie hatte früh erkannt, dass er zu Großem bestimmt war. Nur an einem Ort der Tora konnte er sein enormes Potenzial voll ausschöpfen.

Der junge Mann kam in Wilna an und studierte mehrere Jahre in der Stadt der großen Tora-Gelehrten. Als er ins Heiratsalter kam, wählte ihn einer der reichsten und angesehensten Bürger zum Schwiegersohn, und er setzte sein Studium fort. Innerhalb weniger Jahre war er eine berühmte Autorität auf dem Gebiet des jüdischen Rechts und schrieb das Buch Siftei Kohen, das nach seinen Initialen auch Schach genannt wird. Seine Mutter und seine Schwester wussten nichts davon.

Damals begannen der boshafte Chmielniki und seine Anhänger, Osteuropa zu verwüsten. Sie zerstörten auch Schabtais Heimatstadt, ermordeten zahlreiche jüdische Männer, Frauen und Kinder, raubten ihr Eigentum und brannten ihre Häuser nieder. Schabtais Schwester gelang die Flucht. Mittellos zog sie mit einer Gruppe von Bettlern durchs Land und kam eines Tages in die Stadt Wilna, wo sie in einer Synagoge Schutz suchte. Die Frau des Gabbai war sofort angetan vom edlen Charakter der jungen Frau, von der Art, wie sie redete und sich benahm.

„Warum bleibst du nicht hier in Wilna?“, fragte sie freundlich. „Ich finde bestimmt eine gute Arbeit für dich, damit du deinen Lebensunterhalt in Würde verdienen kannst.“

Die junge Frau freute sich über das Angebot und wurde von einer angesehenen Familie als Hausmädchen eingestellt. Nach all ihren Entbehrungen war sie endlich glücklich. Die Herrin des Hauses war von dem Mädchen ebenfalls beeindruckt.

„Eigentlich brauche ich kein Hausmädchen“, sagte sie. „Aber ich habe eine besondere Aufgabe für dich, die nicht sehr schwierig, aber verantwortungsvoll ist. Mein Schwiegersohn ist ein Talmud-Gelehrter, der bis spät in die Nacht die Tora studiert. Alle im Haus schlafen dann schon, und niemand kann ihm sein Abendessen bereiten. Diese Aufgabe möchte ich dir anvertrauen.“

So kam es, dass die junge Frau sich an diesem Abend vor die Tür des Studierzimmers setzte und wartete, bis der Gelehrte fertig war. Sie hörte zu, als er laut sprach, und die liebliche Melodie berührte ihre Seele und weckte lange vergessene Erinnerungen. Einen Augenblick lang sah sie sich als Kind. Die Stimme klang wie die ihres Vaters, Reb Meir! Aber der war ja vor Jahren gestorben. Der Gegensatz zwischen dem angenehmen Traum und ihrem derzeitigen Status als arme Waise wurde ihr plötzlich unerträglich. Die Gefühle überwältigten sie, und sie begann zu weinen. Der Gelehrte hörte sie und öffnete die Tür. Als er fragte, warum sie weinte, wollte sie es ihm nicht sagen und trocknete ihre Tränen.

„Es ist nichts“, sagte sie. Also setzte der Gelehrte sein Studium fort. Aber wenige Minuten später schluchzte sie erneut, weil der Klang seiner Stimme so bewegend war. Als er zum zweiten Mal herauskam, schüttete sie ihm ihr Herz aus. Sie berichtete von ihrer angesehenen Familie, von ihrem Vater, der eine ganz ähnliche warme Stimme gehabt hatte, und von den viele schönen Erinnerungen. Dann erzählte sie ihm den Rest der traurigen Geschichte. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht merkte, wie blass der Mann geworden war. Er fiel fast in Ohnmacht, als er erkannte, dass dieses Mädchen seine Schwester war. Doch vorläufig behielt er seine Gefühle für sich und tröstete sie, so gut er konnte.

Auf seine Bitte wurde die junge Frau in die Familie aufgenommen. Niemand wusste, warum, aber alle respektierten seinen Wunsch. Bald wurde das Mädchen von allen geliebt. Einige Zeit später erkrankte die Hausherrin und starb. Nach der Trauerzeit drängte man den Witwer, erneut zu heiraten, da er noch ziemlich jung war. Als er seinen Schwiegersohn um Rat fragte, riet ihm dieser, die junge Frau zu heiraten, die bei ihm Zuflucht gefunden hatte.

„Sie ist bescheiden und klug und kommt aus einer guten Familie“, sagte er. „Und so G-tt will, werde ich bei der Hochzeit ihre wahre Identität enthüllen.“

So geschah es. Als Hochzeitsgeschenk versprach Schabtai dem Paar einen Sohn, der die jüdische Welt erleuchten werde. Und in der Tat wurde ihnen ein Sohn geboren, aus dem der berühmte Rabbi Mei, der Autor der Panim Meirot, wurde.