Einmal erzählte der Baal Schem Tow seinen Schülern von zwei Nachbarn, einem Tora-Gelehrten und einem armen Arbeiter. Der Gelehrte wachte vor der Morgendämmerung auf, eilte in die Studienhalle und las mehrere Stunden lang. Dann betete er lange und voller Hingabe, lief nach Hause, um einen Bissen zu essen, und kehrte in die Studienhalle zurück, wo er wieder stundenlang über Büchern saß. Nach dem Mittagessen ging er auf den Markt und schloss ein paar kleine Geschäfte ab, gerade genug, um seinen Lebensunterhalt zu fristen. Dann ging er wieder in die Studienhalle. Nach den Abendgebeten und dem Abendessen saß er erneut über heiligen Büchern, bis spät in die Nacht.

Sein Nachbar erwachte ebenfalls früh, aber er konnte nicht viel in der Tora lesen; denn einerlei, wie sehr er sich anstrengte, er schaffte es kaum, genug Essen auf den Tisch zu bringen. Bei Tagesanbruch betete er rasch mit dem ersten Minjan, dann arbeitete er den ganze Tag und die halbe Nacht. Wenn er am Schabbat endlich Gelegenheit hatte, ein Buch in die Hand zu nehmen, schlief er bald vor Erschöpfung ein.

Wenn die zwei Nachbarn einander im Hof begegneten, warf der Gelehrte dem „profanen Gesellen“ einen verächtlichen Blick zu und eilte dann zu seinen frommen Büchern. Der arme Arbeiter seufzte und dachte: „Ich habe es schwer, und der Gelehrte hat es leicht. Wir sind beide in Eile aber er geht in die Studienhalle, und ich renne zu meiner weltlichen Arbeit.“

Als die beiden starben und vor dem himmlischen Gericht erschienen, wo das Leben jedes Menschen auf der Waage des g- ttlichen Urteils gewogen wird, pries ein Engel die vielen Tugenden des Gelehrten auf der rechten Waagschale: seine vielen Stunden des Tora-Studiums, seine meditativen Gebete, seine Genügsamkeit und Ehrlichkeit. Aber ein anderer Engel legte einen einzigen Gegenstand auf die linke Waagschale: den verächtliche Blick, den der Gelehrte manchmal seinem Nachbarn zugeworfen hatte. Langsam begann diese Waagschale zu sinken – offenbar wog sie schwerer als die beträchtliche Ladung auf der rechten Schale.

Als der arme Arbeiter an der Reihe war, lud ein Engel sein kümmerliches, spirituell leeres Leben auf die linke Waagschale. Der andere Engel hatte nur ein Gewicht zu bieten: den sorgenvollen, sehnsüchtigen Seufzer, den der Arbeiter ausgestoßen hatte, wenn er seinem gelehrten Nachbarn begegnete. Doch als der Engel diesen Seufzer auf die rechte Waagschale legte, wog sie die gesamte negative Seite auf; sie erhöhte jeden Augenblick der Not im Leben des Armen und machte ihn wertvoll.