von E. Lesches
In seiner Jugend hatte der Chassid Reb Nachman, aus dem später der Rabbi von Uschatz wurde, das ungewöhnliche Verdienst, mit Reb Dow Bär zu studieren (Dow Bär wurde später der zweite Rebbe von Chabad Lubawitsch, der Mitteler Rebbe). Die beiden Jungen waren etwa sechzehn Jahre alt, als sie gemeinsam zu lernen begannen. Aber nach einem Jahr reiste Reb Nachman wieder nach Hause und wurde Geschäftsmann.
Drei Jahre vergingen; dann fand Reb Nachman, es sei höchste Zeit, Rabbi Schneur Zalman (den Gründer des Chabad-Chassidismus und Vater von Reb Dow Bär) zu besuchen. Also reiste er nach Liadi, wo er auch seinen alten Freund Reb Dow Bär wieder traf, der zu Hause über dem offenen Talmud saß. Die beiden plauderten eine Weile.
Am nächsten Tag kam Reb Nachman wieder. Wieder studierte sein Freund den Talmud. Reb Nachman warf einen Blick auf das Buch und grinste. „Willst du mir weismachen, dass du 36 Talmudblätter in einer Nacht durchgearbeitet hast?“, fragte er. „Gestern hast du die vierte Seite studiert, und heute bist du bei der vierzigsten! Als wir zusammen lernten, warst du nie so schnell!“
Reb Dow Bär antwortete nicht. Sie unterhielten sich über andere Themen, und Reb Nachman vergaß den Vorfall. Ein paar Tage später fuhr er nach Hause. Kaum hatte er sich von der Reise erholt, brannte sein Haus bis auf die Grundmauern ab. Obendrein verlor er viele wertvolle und wichtige Dinge und fast die Hälfte seines Vermögens. Verzweifelt reiste er wieder zum Rebbe, berichtete ihm von seinem Unglück und bat ihn, im Himmel ein gutes Wort für ihn einzulegen, damit er künftig von Unglück verschont bleiben möge. Rabbi Schneur Zalman hörte ihm aufmerksam zu.
„Du hast offenbar jemanden beleidigt und erzürnt“, sagte er und sah überrascht aus. „Vielleicht meinen Sohn, Dow Bär.“
„Das ist unwahrscheinlich“, erwiderte Reb Nachman. „Wir sind gute Freunde, fast Brüder.“ Der Rebbe schwieg. Reb Nachman ging, und Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf. Der Rebbe meinte, er habe jemanden erzürnt. Aber wie konnte das sein? Er erinnerte sich an seinen letzten Besuch und an seinen Scherz über das Lerntempo von Reb Dow Bär. Hatte er ihn damit verärgert?
Schnell suchte er Reb Dow Bär auf und erzählte ihm von seinem Unglück und von den Worten des Rebbe. „Es stimmt, dass ich mich über dich geärgert habe“, gab Reb Dow Bär zu. „Wie kommst du dazu, dich über meine Lernmethode lustig zu machen? Ja, normalerweise lerne ich langsam und denke über jedes Wort nach. Aber in den letzten drei Jahren habe ich ständig gelernt, während du dich um deine Geschäfte gekümmert hast. G-tt sei Dank war mein Studium erfolgreich.“
Reb Nachman war verwundert über die Frömmigkeit seines früheren Lernpartners. Es war erstaunlich, welche Folgen seine Verärgerung haben konnte, obwohl er erst neunzehn war. Reb Dow Bär fuhr fort: „Aber ich bin traurig über dein Unglück, vor allem darüber, dass meine Gedanken es verursacht haben. Ich vergebe dir aus ganzem Herzen und segne dich. Möge G-tt, der Barmherzige, dir deinen Verlust ersetzen.“
Reb Nachman kehrte nach Hause zurück – und das Rad des Schicksals wendete sich. Er machte nicht nur seinen Verlust wett, sondern verdiente auf einmal doppelt so viel wie gewöhnlich.
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